Rudolf Tessler: Briefe an meine Kinder
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(Von Rumänien über Auschwitz nach Amerika), Missouri 1999 (ISBN 0-8262-1244-1)
Ausschnitt: S.64-139, (beim Ausdruck etwa 39 Seiten) - Übersetzung: Josef Wagner
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Häftlinge in Warschau
Wir waren unter den Häftlingen, von denen die Deutschen erwarteten, dass sie sich von Auschwitz nach Warschau begeben, um sie dort als Zwangsarbeiter zu benutzen. Große Zahlen von Häftlingen, beinahe alles Männer in ihren späten Zehnern, Zwanzigern, Dreißigern wurden transportiert, um in Fabriken und anderen Orten zu arbeiten, wo die Deutschen Gebäude errichteten, wie unterirdische Hangars und Fabriken. Sie zahlten nichts für die Arbeit und boten kaum Essen. Umgekehrt bekamen sie Arbeiter, obwohl wir nicht viel produzierten. Aber wir waren billig und für die Deutschen verzichtbar.
Uns war nur erlaubt worden, nach Auschwitz das mitzunehmen, was wir tragen konnten. Dort nahmen sie uns alle Wertgegenstände ab, die wir mitgebracht hatten. Bevor wir nach Warschau verlegt wurden, gaben sie uns Decken und für die, die keine Schuhe hatten, Clogs oder das, was die Deutschen in Auschwitz Schuhe nannten. Die Deutschen waren peinlich genau.
Mein Vater, Buroch und ich wurden Glaser und als solche kamen wir nach Warschau.
Aber bevor wir losfuhren, nahm uns das „Kanada-Kommando“ von Auschwitz alles weg von dem wenigen, was wir organisiert hatten. Die Berge von Schuhen und Brillen – später belegt in vielen Bildern – wuchsen immer höher.
Es wurden uns Decken gegeben, weil die Deutschen wussten, dass wir die in Warschau brauchen würden. Ich erinnere mich komischerweise, dass das seidene Decken waren. Nehmt eine oder zwei, sagten sie, zusammen mit Schalen, die jeder von uns benützte, aber sonst nichts. Jede Schale hatte ein Loch, mit dem wir sie an unserer Kleidung befestigten. Jeder von uns hatte einen Blechlöffel. Eine Schale und einen Löffel. Das war unser Überlebensset.
Wir wurden mit dem Zug nach Warschau transportiert, geschätzte 300 Kilometer nordöstlich von Auschwitz. Auf dem Weg wurden die Häftlinge ohne Rücksicht geschlagen. Als wir Warschau erreichten, öffnete sich für uns eine ganz andere Welt. Es war eine große Stadt und wir waren in einem neu geschaffenen Konzentrationslager.
Warschau war im Frühling 1944 eine halb zerstörte Stadt. Die Luftangriffe des Blitzkriegs 1939 und die zerstörende Kraft der Deutschen bei der Niederschlagung des heroischen Aufstands der Juden im Ghetto zwischen 19. April und 16. Mai 1943 erzeugte gewaltige Schäden. Während des Ghetto-Aufstandes, töteten oder inhaftierten die Deutschen 56065 jüdische Kämpfer. Am Ende meldete der kommandierende General Jürgen Stroop stolz an seine Vorgesetzten: „Das frühere jüdische Viertel von Warschau existiert nicht mehr.“
Als der jüdische Widerstand im Ghetto gebrochen wurde, beschlossen die Deutschen, alle Zeichen zu beseitigen, die bewiesen, dass es früher einmal der Ort gewesen war, wo hunderttausende Juden vor ihrer Hinrichtung eingesperrt worden waren. Bei dieser Gelegenheit begann Stroop den Aufbau von zwei Konzentrationslagern. Er hat angeblich bedauert, dass er nicht mehr Juden übrig behalten hatte, um dieses Projekt durchzuführen. So, übereinstimmend mit den Veröffentlichungen des Historikers Martin Gilbert, überzeugte er den Gestapo-Befehlshaber Heinrich Himmler, den Transport von etlichen Tausend Juden von anderen Orten in Europa zu veranlassen, um das erste Konzentrationslager von Warschau zu bauen. Es wurde im Ghettogebiet am 19. Juli 1943 fertiggestellt, gerade zwei Monate nach der Beendigung des Aufstandes.
Zu diesem Lager transportierten die Deutschen viele Juden, aber keinen aus Polen. Sie befürchteten, dass polnische jüdische Häftlinge flüchten würden und wegen ihrer Sprachfähigkeit in dem Land verschwinden würden. So brachten die deutschen Juden aus Litauen, griechische Juden, französische Juden und andere dorthin. Eine beträchtliche Zahl von französischen Juden waren von Polen emigriert, aber wurden nun als Franzosen betrachtet. Zusammen waren ungefähr 5000 Häftlinge in diesem ersten Lager.
Dann wurde ein zweites Lager aufgebaut und 1944 eröffnet. Es wurde das Ungarn-Lager genannt, und dorthin wurden wir gesteckt. Dieses Lager war in der Nähe des berüchtigten Pawiak-Gefängnisses, wo Tausende von den Deutschen ermordet und gequält wurden. Das Gefängnis schaute in der Tat auf uns herunter. Es war in allen Türmen, die einen Überblick über das Gelände gaben, mit schweren Maschinengewehren bestückt, die von jeder Abdeckung oder Tarnung befreit waren. Das Lager war außerdem nahe dem Gebiet, wo der Judenrat und das Gemeindegebiet gewesen war. Es war dort, wo das Haus des Oberrabbiners gewesen war. In der Nähe waren eine Anzahl Synagogen. Die meisten von ihnen, eingeschlossen die Hauptgebäude, waren dem Erdboden gleich gemacht.
Ein Gebäude, das stehen bleiben durfte, wurde als Hauptquartier der SS verwendet. Als wir in Warschau ankamen, war derselbe SS-Mann aus meiner Heimatstadt dort, der uns schon in Auschwitz begrüßt hatte. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen, obwohl wir schräg gegenüber in derselben Straße aufwuchsen.
Wir kamen an einem sehr heißen Tag an. Ich glaube, es war am 31. Mai, sieben Tage, nachdem wir nach Auschwitz gekommen waren. Es war um Mittag und es wurde sofort ein Appell angeordnet. Wir wurden aufgestellt und standen wieder stundenlang. Mein Bruder wurde von der Hitze ohnmächtig. Er brach zusammen, aber wir fingen ihn auf, bevor er den Boden berührte. Die Deutschen hätten ihn, wenn sie es gesehen hätten, auf der Stelle erschossen. „Jeder der unproduktiv ist...“, sagte sie. Wir packten ihn und schüttelten ihn und er konnte wieder stehen. Er war schwach, weil ihm Nahrung und etwas zu trinken fehlte und wegen der Fahrt von Auschwitz her. Die Deutschen sahen ihn nicht. Uns wurden Arbeitsanweisungen gegeben und am nächsten Tag gingen wir in Gruppen von hundert in zwanzig Fünferreihen zur Arbeit.
Wir wurden den Stockbetten der Baracke Nummer drei zugewiesen. Mein Vater war in der untersten, mein Bruder war in der Mitte und ich war oben. Wir waren dort bis Ende Juli dieses Jahres.
In Baracke Nr.3 gab es einen Blockältesten mit mehreren Assistenten. Sie waren grausam, aber weniger als die in Auschwitz.
Unter ihnen im Lager war ein Deutscher, der ein rotes Dreieck trug, das ihn als politischen Gefangenen auswies. Er trug auch die Nummer 1 auf seiner Häftlingskleidung von seinen Tagen in Dachau. Es stellte sich heraus, dass er der Staatsanwalt beim Hochverratsprozess gegen Adolf Hitler 1924 gewesen war („Putsch im Bürgerbräukeller“). Er war nun ein Insasse wie wir und der anständigste Mann, den du finden konntest. Er war groß und schmal, aber unglücklicherweise kann ich mich an seinen Namen nicht erinnern. Sein Stellvertreter in Warschau war ein tschechischer Jude mit dem Namen Mautner. Er war ein Intellektueller und kulturbeflissener Mann, sehr anständig. Später rette er mein Leben.
Unsere Arbeit war, jeden Tag hinauszugehen und die zerstörten Gebäude abzubauen, Stein für Stein und 250 Steine auf getrennte Stapel zu legen. Einige der Steine wurden an die Polen verkauft. Andere wurden nach Deutschland geschafft. Es gab Gruppen von Insassen, die die Steine trennten und andere, die sie säuberten.
Am Anfang war es in Warschau nicht so schlecht, aber das hielt nicht lange an. Es waren einige Alte dort, die uns einige Tricks zeigten und wir hörten zu. Der erste Trick war, nie so zu erscheinen, als wäre man untätig. Wenn du untätig warst, wurdest du totgeschlagen. Aber wenn du andererseits die harte Arbeit machtest, die von den Deutschen verlangt wurde, würdest du nicht überleben können. So musstest du etwas dazwischen finden – du musstest aussehen, als ob du hart arbeitest, aber Energie und Stärke bewahren, soweit das möglich war.
Du musstest auch einen Weg finden, zu „organisieren“. Das war das neue Wort, das wir lernten. „Organisieren“ bedeutete stehlen, rauben, wegnehmen, unter den Nagel reißen. Du sagtest nicht: „Gehe und stehle eine Schubkarre“, du sagtest „Organisiere eine Schubkarre“. Organisiere ein Stück Brot, Organisiere etwas Whiskey. Organisiere was auch immer. Organisiere.
Das war das Wort, das in den Lagern eingeführt wurde. Du musstest organisieren lernen. Wenn du das nicht machtest, konntest du von dem Essen, das dir gegeben wurde nicht überleben. Die Deutschen gaben uns nur ein Drittel eines Laibes Schwarzbrot, wahrscheinlich ein Drittel Kilo jeden Tag. Ich glaube wir bekamen Brot jeden Nachmittag oder jeden Morgen – ich erinnere mich nicht an mehr. Es könnte auch zur Nacht gewesen sein. Abends bekamst du auch etwas Suppe. Am Morgen bekamst du etwas gesüßtes Wasser und mittags gab es wieder Suppe. Das war es.
Gelegentlich gab es ein Stück Pferdefleisch, aber nur gelegentlich. Die Suppe war immer wieder die gleiche. Manchmal waren Zuckerrüben darin, Gerste und Kohlrabi.
Ich versprach mir selbst, dass ich, wenn ich heimkäme, niemals mehr einen Kohlrabi essen würde. Nie wieder Gerste essen würde. Ich würde nie mehr etwas essen, was wir bekamen – besonders Kohlrabisuppe, Gerstensuppe, Zuckerrüben und manchmal an Sonntagen ein Stück Margarine. Das war unser Essen. Um zu überleben, musstest du organisieren. Du konntest von niemanden etwas kaufen.
Dann, als wir zu den Arbeitsplätzen marschierten, erkannten wir, dass es noch einen anderen Weg gab, Nahrung zu beschaffen. Es gab eine Quote, die man erwartete, das was die Menge, die wir an einem Tag zu schaffen hatten. Es war so etwas in der Größenordnung wie ein Stapel Steine oder zwei von jeweils 3 oder vier Arbeitern. Wir fanden heraus, dass wir einige Stapel an die Polen verkaufen konnten, wenn wir mehr produzierten. Sie kamen mit ihren niedrigen Wagen, gezogen von großen belgischen Pferden, um die Steine aufzuladen, die sie von den Deutschen kaufen wollten. Wir schlussfolgerten, dass wir den Polen Steine billiger verkaufen konnten als die Deutschen, weil uns die Steine absolut nichts kosteten.
Die Polen würden die Deutschen bezahlen und ein Blatt Papier erhalten, das ihnen erlaubte eine bestimmte Anzahl Steine aufzuladen. Es waren hier und dort Wachen, aber nicht überall. Wenn die Polen zu einem unserer Steinstapel kamen, verständigten wir uns mit Zeichen, obwohl wir kein Polnisch sprachen. Wir machten ihnen klar, dass wir ihnen weitere hundert Steine geben würden, wenn sie uns etwas Brot oder ein Stück von dem oder jenem geben würden.
Wir lernten, dass wir solche zusätzlichen Steine verladen konnten, um im Tausch etwas Fleisch, Käse und gelegentlich sogar eine Flasche Whiskey zu erhalten. Whiskey und Zigaretten waren die wertvollsten Handelsartikel, die wir bekommen konnten. Wir brachten sie ins Lager und tauschten sie. Wir tauschten Whiskey für Brot, Brot für Suppe, und Suppe gegen etwas anderes. Wir entdeckten, dass dies der Weg war, etwas zu kriegen, das für uns sehr wertvoll war. Gleichzeitig entdeckten wir, wie wir die Steine vom Schutt schneller säubern konnten, so dass wir mehr Wertvolles hatten, mit dem wir handeln konnten.
Mein Vater, mein Bruder und ich blieben immer zusammen. Auf diese Weise konnten wir unseren Vater an einem Arbeitsplatz ausruhen lassen, während wir die Arbeit erledigten. Mit uns waren jene sieben Freunde aus unserer Heimatstadt – 10 waren wir insgesamt. Wir wurden alle zusammen von unserer Heimatstadt abtransportiert und wir überlebten auch alle zusammen.
Die anderen waren alle in meinem Alter. Du musstest mein Alter haben – 17 Jahre oder jünger – denn Männer, die älter waren, wurden in Arbeitsbataillone gesteckt und an die Ostfront geschickt. Ich war der älteste von unserer Gruppe außer natürlich meinem Vater. Mit 18 warst du weg. Fünf oder sechs Monate älter und ich wäre auch weg gewesen.
Wir konnten manipulieren und aus fast jeder Situation Vorteile ziehen. Unser größtes Problem war, wie man unsere ausgehandelten Waren in das Lager schmuggelt. Es wurde so dicht von der SS bewacht, dass man es als hermetisch abgeschlossen beschreiben könnte. So steckten wir Artikel in unsere Hosen. Du musstest sie hoch platzieren, dass du bei einer Durchsuchung eine größere Chance hattest nicht entdeckt zu werden. Es gab eine spezielle Technik, um das zu erreichen, aber es war im Sommer schwierig, wenn keine zusätzliche Kleidung getragen wurde.
Es war eine Technik, die wir beherrschen mussten, um zu überleben. Manchmal musste man Dinge in kleine Stücke schneiden und sie zwischen uns 10 aufteilen. Das konnte man natürlich nicht mit einer Flasche Whiskey machen. Davon eine ins Lager zu schmuggeln, war eine größere Unternehmung.
Wenn die Deutschen Häftlinge erwischten, dann geschah das nach einem bestimmten Muster. Wenn sie einen erwischten, wussten wir, dass der nächste durchkommen würde. So tauschten wir Positionen zwischen den Reihen. Wir waren meistens erfolgreich. Wenn wir erwischt würden, würden sie uns auf der Stelle töten. Das war keine Frage.
Aber das Risiko, sein Leben zu riskieren, war ohne Bedeutung. Du hast geschmuggelt, um zu überleben, so haben wir nicht darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn wir erwischt würden. Auch brauchten wir nicht lange, um die notwendigen Techniken zu beherrschen, um zu erreichen, dass unser Vater nicht viel arbeiten musste, weil wir in der Lage waren ihn zu schützen und abzuschirmen. Wir machten seine Arbeit und obwohl wir ein paar Steine weniger fertig machten, hatten wir immer genug zu essen und konnten teilen.
Zu dieser Zeit hatten wir recht anständige Bedingungen mit einer halben Stunde Unterbrechung für das Essen. Sie brachten die Suppen in Kesseln zu uns und schöpften sie heraus. Was du mit deinem Anteil Brot gemacht hast, wie und wann du es gegessen hast, war unwichtig. Manche Leute aßen ihres in der Nacht. Manche ließen etwas für den nächsten Morgen übrig. Es gab aber immer die Möglichkeit, dass jemand es stahl, bevor du es essen konntest.
Es gab eine ständige Diskussion, wann die beste Zeit war, um das Brot zu essen: „Ist es am besten, es auf einmal zu essen? Ist es besser, es aufzuteilen und es zu drei verschiedenen Zeiten zu essen? Ist es am besten, es am Morgen zu essen? Welche Zeit ist am besten?“ Wir änderten unsere Meinung darüber, zu welcher Zeit du ein Stück Brot unter deinem Kopf behalten solltest in der Nacht. Aber was geschah, wenn immer noch jemand es von dir stehlen konnte? Es gab immer eine Diskussion darüber, wann es am besten war, zu essen. Jeder war unterschiedlicher Ansicht. Die veränderte sich zehnmal am Tag. Und wir waren immer hungrig.
Einmal aß ich mein Mittagessen am Arbeitsplatz, legte mich hin und schlief ein. Ich schlief eine Weile und als ich aufwachte, war es zu still. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Ich schaute herum und sah niemand. Es war ein plötzlicher Appell angesetzt worden und jeder wurde ins Lager zurückgerufen. Möglicherweise war jemand geflüchtet. So machten die Deutschen einen Appell. 5000 Häftlinge wurden aufgestellt, aber ich war nicht dabei. Ein Häftling wurde vermisst und ich war dieser eine.
Ich hatte eine Stunde oder länger geschlafen. Als ich aufwachte und sah, dass niemand da war, begann im zum Lager zu gehen. Aus der Entfernung sah ich jemand winken und mich rufen: „Wo bist du gewesen. Komm schnell!“ Es war der Blockälteste und sein Assistent. Sie zeigten auf mich und riefen: „Wir haben ihn gefunden, wir haben ihn gefunden!“
Sie bedeuteten mir, mich zu beeilen und so begann ich auf sie zuzulaufen. „Weißt du was du angestellt hast?“ fragten sie. „Du hast viele Leute von der Arbeit abgehalten. Wo bist du gewesen?“
Ich sagte, dass ich bei der Arbeit gewesen wäre. Aber sie sagten, dass vor längerer Zeit dort ein Appell gewesen wäre und ich wäre nicht da gewesen. Sie trieben mich an als wir ins Lager gingen und brachten mich zu Mautner, dem Stellvertreter des Lagerältesten und sagten, dass sie mich gefunden hätten.
„Tötet ihn!“ sagte der Lagerkommandant. „Erschießt ihn!“ Die Regel war, dass du auf der Stelle erschossen wurdest, wenn du versucht hast zu fliehen. Aber Mautner, dessen Ansichten respektiert wurden, sagte: „Machen wir es später! Halten wir die anderen nicht von der Arbeit ab. Wir verlieren zu viel Zeit.“
„Ich kümmere mich um ihn“, fügte Mautner hinzu. „Macht euch keine Sorgen. Und nun lassen wir die Leute an die Arbeit gehen.“
In dieser Nacht fragte er mich: „Was hast du gemacht?“ Und er gab mir ein paar sanfte Backenstreiche. „Mach das nie wieder!“ sagte er.
Mein Vater und mein Bruder waren sehr besorgt um mich. Sie dachten, das wäre es gewesen. Aber Mautner rettete mein Leben.
An Sonntagnachmittagen arbeiteten wir nicht. Stattdessen mussten wir Konzerte für den Lagerkommandanten, einen SS-Offizier abhalten. Wir sangen jüdische Lieder für ihn. Einige der Häftlinge waren Musiker. Andere bildeten eine Chor, der aus allen Lebensbereichen zusammengestellt war und sie sangen für den SS-Kommandanten. Ein chassidisches Lied war sein Lieblingslied, ein sehr berühmtes jüdisches Lied: „Belz, mein Shtetel Belz“ – meine Stadt Belz. Das ist eine Stadt in Polen mit einer berühmten chassidischen Dynastie desselben Namens. In Auschwitz und in vielen anderen Lagern, eingeschlossen das ungarische Lager in Warschau gab es auch Konzerte von Häftlingen, die daheim bekannte Musiker waren.
Währenddessen hielten die Morde an. Das war die Mentalität der Deutschen. Sie versuchten ihren Spaß zu haben, während sie ihr mörderisches Handwerk der Auslöschung der Juden ausübten. Diese Entmenschlichung begann von dem Tag an, wo du von zu Hause abgeholt wurdest und ständig jeden Tag. Es war sehr gut ausgedacht, nicht etwas, das zufällig passierte. Es war alles berechnet.
Es soll angemerkt werden, dass nicht die SS allein alle Morde ausführte. Es gibt Filme, die zeigen, dass Deutsche weit früher 1939,1940 und 1941 Häftlinge exekutieren und in diesen Filmen ist kein einziges SS-Emblem zu sehen. Die Mörder haben die Embleme der regulären deutschen Armee an, der Wehrmacht. Später, als die Anzahl der Morde ständig anstieg, beginnend 1942, nahmen die SS, die Ordnungspolizei (ähnlich der civil guard in Amerika) und die Wehrmacht daran teil. Man kann nicht so viele Menschen mit der SS allein umbringen. Andererseits hatten die Truppen der Waffen-SS nichts mit den Morden an den Juden zu tun. Diese Truppen betrachteten sich selbst als eine Eliteeinheit und hatte nichts mit Morden zu tun.
Die SS-Wachen in Warschau waren verwöhnt. Sie trugen stattliche Uniformen. Sie wurden mit Whiskey, Nahrungsmittel und Frauen in Hülle und Fülle versorgt. Alles was sie wollten, bekamen sie. Ihre Baracken wurden schön ausgestattet. Jeder Offizier hatte einen Diener.
Die Wachen hatten die Gewohnheit, nach neuen Insassen zu fragen, die Arzt, Zahnarzt oder Rechtsanwalt waren. Von allen Häftlinge in Warschau wurde angenommen, dass sie im Baugewerbe waren, aber völlig überraschend gab es einige, die sich freiwillig als Ärzte meldeten. Die Wachen scherten sich nicht darum, ob irgendeiner von uns ein Arzt war. Es war nur eine Täuschung, die sie benutzten, um Leute auszusondern, um sie noch mehr zu entmenschlichen. Wenn es eine Anfrage gab, wer ein Doktor sei, dann würden sich einige Häftlinge freiwillig melden und die federführenden Offiziere würden sagen: „Gut, einige meiner Socken müssen gewaschen werden und du wirst sie waschen.“ Das war der Grund, warum die Deutschen nach jemand suchten, der zugab ein Arzt zu sein – um eine Gelegenheit zu haben, Leute zu demütigen.
Die Wachen schauten auch auf deine Hände. Den Leuten, die weiche hatten, nicht schwielige, wurden die schlimmsten Arbeiten gegeben. Weil sie nicht die Bauarbeiter waren, die sie vorgaben zu sein, sagten die Deutschen: „Nun werden wir dich das Arbeiten lehren. Nun wirst du arbeiten, bis du stirbst.“
Viele der ungarischen Juden, die später aus ihren großen Städten in die Lager gebracht wurden, überlebten nicht, weil sie Intellektuelle waren. Sie waren nicht in der Lage, schwere körperliche Arbeit zu leisten. Sie kamen aus Mangel an Beweglichkeit und wegen ihrer geistigen Einstellung nicht damit zurecht. Mein Vater aber - 45 Jahre alt - war in guter körperlicher Verfassung. Er war körperlich und psychisch belastbar und einfallsreich, mit großer Erfahrung in den Verfahren, die nötig waren, um zu überleben. Deshalb kam er mit extrem schwierigen Bedingungen zurecht.
Gegen Ende des Juli 1944 kam die russische Armee immer näher an Warschau heran. Ihre Panzer waren nur noch sieben Meilen ostwärts der Weichsel. Die russische Artillerie konnte man ständig hören. Eines Nachts war es so laut, dass ich aus meinem Hochbett fiel. Wir hörten auf zur Arbeit zu gehen. Es war zu gefährlich für die Wachen draußen zu sein.
Die Russen ließen Fallschirmjäger in das Pawiak-Gefängnis abspringen und sie öffneten die Tore für die Gefangenen, so dass sie fliehen konnten. Der Zugverkehr zur Stadt war abgeschnitten. Die Masse der russischen Armee war nun über den Fluss übergesetzt und sie ermutigten die polnische Untergrundarmee, einen Aufstand zu beginnen.
Viel später fanden wir heraus, dass es eine Diskussion zwischen den Deutschen darüber gab, was mit uns geschehen sollte. Es waren 10000 von uns zur Hälfte in dem ungarischen Lager, wo wir waren und zur anderen Hälfte im älteren Lager in der Nähe. Die Diskussion ging darüber, ob man uns entweder zu einem Krematorium bringt und uns ausrottet, indem man uns auf der Stelle erschießt, oder uns woanders hin in Marsch setzt.
Aber der Bau des Krematoriums war noch nicht fertig. So wurde beschlossen, uns zu evakuieren, uns in Marsch zu setzen, denn wir waren immer noch gutes Arbeitermaterial. Wir waren jung und unter diesen Verhältnissen gesund. Ich glaube, dass keiner von uns in dem ungarischen Lager starb. Einige Häftlinge in dem älteren Lager starben, weil sie schon ein Jahr länger da waren. Aber unsere Gruppe war verhältnismäßig gesund. Gegen Ende Juli bekamen wir den Befehl, uns vorzubereiten, Warschau zu verlassen. Alles, was wir mitnehmen durften, war eine Decke, nichts anderes. Wir hatten nichts anderes, so störte uns das nicht.
Am 1. August 1944 kam der Krieg nach Warschau zurück. Es gab einen Aufstand der polnischen Heimat-Armee, dem Untergrund, die das Zentrum der Stadt besetzten. In der Nähe, auf der Ostseite der Weichsel quer durch die Stadt lag die russische Armee. Heinrich Himmler war von Hitler angewiesen worden, Truppen in die Stadt zu bringen, auch eine Brigade deutscher Krimineller und einen der russischen Verräter, um den Aufstand niederzuschlagen. Die Deutschen beschlossen, dass die Häftlinge der Warschauer Konzentrationslager von der Stadt wegbewegt werden sollten, so dass ihre Verwendung als Zwangsarbeiter fortgesetzt werden könnte. Eine Baracke voll mit 300 Insassen wurde zurückgelassen. Ich weiß nicht warum.
Mein Vater, ich und einige andere besprachen uns miteinander. Sollten wir schauen, dass wir wegkamen und uns verstecken? Die Russen waren nahe. Wir wussten das. Wir konnten sie hören. Wir vermuteten, dass der Kampf in ein paar Tagen vorüber sein würde. Aber mein Vater sagte uns, dass es unklug wäre, zu flüchten. Er hob vor allen Dingen hervor: „Die Polen sind nicht dafür bekannt, sehr freundlich zu uns Juden zu sein.“ „Zweitens“, sagte er, „wir können die Sprache nicht. Wo wollen wir hingehen? Sie werden uns geradewegs einfangen.“ „Außerdem“, sagte er, „gibt es noch das Problem mit der Kleidung. Du hast gestreifte Kleidung an. Und du hast Streifen auf deinem Kopf geschoren. Du kannst nicht weit kommen. Dann wirst du getötet.“
Wir hörten zu und liefen nicht weg. Es gab mehrere Gelegenheiten, wo der Rat unseres Vaters übernommen wurde und wir nicht wegliefen. Bei dieser besonderen Gelegenheit war es für uns offensichtlich, dass unser Vater Recht hatte; die Deutschen hatten Fluchtversuche in Betracht gezogen, als sie keine polnischen Juden in die Warschauer Lager verschoben. Sie wussten, diese Juden würden in der Bevölkerung auffallen, sie konnten fliehen, aber es würde schwierig für sie werden.
Wir begannen unseren Marsch am 28. Juli, als die Temperatur über 37 Grad war. Nach ein paar Tagen, nachdem wir losgegangen waren, verbündete sich der polnische Untergrund mit den 300 jüdischen Insassen, die sich am Kampf beteiligten. Der dauerte einen oder zwei Tage. Die Deutschen führten einen Gegenangriff, während die russische Armee über dem Fluss in Stellung blieb. Die Russen kamen nie herüber. Beinahe alle früheren Häftlinge, die zurückgelassen worden waren, wurden getötet. Nur zwei oder drei überlebten.
Der Grund für die russische Inaktivität war, dass man den Deutschen erlaubte, die polnische Führung zu zerstören und die mögliche Struktur einer zukünftigen Regierung, die den westlichen Alliierten freundlich gesonnen wäre. Jahre später traf ich einen Mann, einen der früheren jüdischen Häftlinge, der auf wundersame Weise überlebte. Wir haben nie herausbekommen, warum diese dreihundert von den Deutschen herausgesucht wurden, um zurückzubleiben. Vielleicht wurden sie gebraucht, um das Erscheinungsbild der vorherigen zwei Lager zu zerstören. Ich weiß es nicht.
Die Viehwaggons konnten dieses Mal nicht benutzt werden, um uns wegzubringen. Züge konnten wegen der Kämpfe und der Sabotage des polnischen Untergrunds nicht nach Warschau hineinfahren. Uns wurde befohlen zu marschieren, aber uns wurde nicht gesagt, wie weit wir gehen müssten. An diesem Freitag waren wir losgegangen zum Ort Sochaczew, etwa 50 Kilometer westlich von Warschau. Es war sehr heiß. Wir brauchten Wasser, aber natürlich gab es keines.
Wir marschierten in fünf Gruppen von je 1000 von unseren Lagern los mit deutschen Wachen vorne und hinten. Insgesamt waren auf dem Marsch etwa 8000 von den zwei Warschauer Lagern. Die Deutschen wechselten ständig die Wachen aus. Autos nahmen sie auf und ließen sie aussteigen. Sie marschierten nicht wie wir. Sie marschierten ungefähr eine Stunde lang und dann wurden sie von den Autos aufgenommen und mit anderen Wachen ersetzt. Während alle Deutschen nur eine Stunde gingen, marschierten wir Stunde um Stunde.
Als wir um Mittag den Sochaczew-Fluss erreichten, waren wir die erste Gruppe und wir marschierten direkt zum Fluss, um Wasser zu trinken. Alle anderen Häftlinge folgten uns zum Fluss. Die Deutschen sahen, was geschah und begannen zu schießen. Die Wachen glaubten, dass sie uns im Griff hätten, aber als wir den Fluss sahen, liefen wir einfach drauflos. Das war dasselbe, was jedes Tier getan hätte, und wir waren zu diesem Zeitpunkt wie Tiere. Als die zweite oder dritte Gruppe den Fluss erreichte, eröffneten die Deutschen das Feuer. Dann wollte keiner mehr aus dem Fluss trinken. Der Sochaczew ist ein großer Fluss und er war im wahrsten Sinne des Wortes rot vom Blut.
Wir nahmen den Marsch wieder auf. An diesem Tag marschierten wir auf der Hauptstraße. Mein Vater riet uns, dass es für unsere Füße wesentlich besser wäre, wenn wir auf dem Grasstreifen am Straßenrand laufen würden, anstatt auf der heißen Straßenfläche. Dieser Rat war etwas, was er im ersten Weltkrieg gelernt hatte. Wir machten es, wie er es uns geraten hatte. Wir hatten noch unsere Schuhe von zuhause. Ich hatte das Glück, dass ich meine Schuhe bis zum Kriegsende hatte. Bevor wir unser Zuhause verlassen hatten, hatten unsere Eltern neue Schuhe für uns gemacht. Sie waren fest wie Stiefel. Unsere Eltern wussten, dass wir sie brauchen würden.
Bei uns war ein älterer Mann aus unserer Heimatstadt in Begleitung seiner zwei Söhne. Er war einer der Intellektuellen von Viseu. Er war viel älter als mein Vater und konnte nicht mehr weiterlaufen wegen seines großen Durstes. In dieser Hinsicht war die polnische Bevölkerung entlang dieses speziellen Streckenabschnittes sehr anständig. Sie brachten uns Eimer Wasser. Die Deutschen aber erlaubten nicht, dass uns Wasser gegeben wurde. Einige Deutsche drohten den Polen, dass sie diese erschießen würden, wenn sie uns mit Wasser versorgten. Andere Wachen leerten nur die Eimer aus.
Wir konnten nicht die Marschkolonne verlassen, um dem alten Mann zu helfen. Bald konnte er nicht mehr weitergehen. „Ich bin durstig“, schrie er. „Ich kann nicht mehr weiter.“ Aber eine Wache ging zu ihm und sagte ihm, er solle weitergehen. Die Söhne des Mannes – einer war älter als ich und einer in meinem Alter – setzten sich mit ihrem Vater hin. „Er kann nicht mehr weitergehen“, sagten sie dem Wachmann. „Er soll lieber gehen, sonst erschieße ich ihn“, sagte der Wachmann.
Die Söhne baten, dass der Vater nur eine Weile rasten dürfe und ihnen wurde gesagt, dass das nicht ginge. „Entweder er geht oder er wird erschossen“, sagte der Wachmann. Die Söhne flehten ihn an, aber der Wachmann erschoss den alten Mann. Es war der erste Mord auf diesem Marsch, den ich als Augenzeuge gesehen habe.
Wir marschierten bis es dunkel wurde, wo wir uns auf einer Wiese mit frisch gemähtem Heu niederließen. Wir waren überall verteilt. Die Deutschen brachten dann etwas zu essen und Wasser und die Häftlinge reagierten wie Tiere. Jeder schnappte sich was er greifen konnte. Als Folge davon wurde die Hälfte des Wassers verschüttet. Die Häftlinge wurden noch verzweifelter durstig. Einige von ihnen hatten Geld versteckt, etwas wie Dollarscheine. So begannen die deutschen Wasser für Geld zu verkaufen. Einige der Häftlinge ohne Geld gingen so weit, sich Goldzähne herauszureißen, um etwas zu trinken zu bekommen. In einigen Fällen waren es die Deutschen, welche die Goldzähne herausrissen.
Am nächsten Tag ging der Marsch weiter. Es war Samstag und wieder sehr heiß, noch schlimmer, als es vorher für uns gewesen war, weil wir nun zwei Tage ohne Wasser waren. An diesem Abend rasteten wir wieder auf einem Acker. Alle Häftlinge hatten Löffel mit Griffen, die scharfgeschliffen waren. Einer begann damit zu graben. Dann fingen wir alle an zu graben und merkten, dass der Boden feucht war. Wir gruben ein bisschen mehr, wahrscheinlich eineinhalb Fuß tief und da war Wasser. Wir steckten sofort unseren Kopf hinunter und begannen es aufzusaugen.
Plötzlich schien es, als ob alle 8000 Männer mit ihren Händen und allem graben würden und es gab immer mehr Wasser. Die Deutschen wurden verrückt. Sie wussten nicht, was sie tun sollten. Sie konnten uns nicht alle erschießen. So ließen sie uns allein. Nun hatten wir genügend Wasser. Wir tranken weiter. Dann füllten wir unsere Flaschen, so dass wir Wasser für den Marsch am nächsten Tag hatten.
Am Sonntag marschierten wir wieder. Wir wurden nach Kutno geführt, einem Eisenbahn-knotenpunkt etwa 120 Kilometer westlich von Warschau, aber niemand sagte uns, wohin es ging. Wir marschierten nur weiter. Spät am Nachmittag am Montag, rasteten wir in einem Kartoffelfeld, als es stark zu regnen anfing. Bald war überall Matsch.
Es regnete die ganze Nacht. Jeder hatte eine Decke umgelegt und die Decke hatte sich vollgesogen. Wir besprachen, was am besten wäre: „Sollten wir unter der Decke schlafen oder auf der Decke oder zwischen zwei Decken.“ Es war eine raue Nacht. Dann beschlossen wir plötzlich wegzulaufen, mein Bruder, mein Freund Steinmetz und ich. Wir hatten gehört, dass wir am nächsten Tag in einen Zug verfrachtet würden. Dies schien das Ende des Marsches zu sein. Wir wurden für den Zug hergerichtet.
Wir hatten natürlich keine Uhren. Es regnete weiter, so dass wir nicht wussten, wie viel Uhr es war. Man musste raten. Wir beschlossen, dass wir auf alle Fälle weglaufen würden und uns verstecken, eine Zeitlang. Wir erzählten das unserem Vater nicht. Unser Plan war, dass einer aufwachen würde und den zweiten Mann aufwecken und dann den dritten. Ich sollte der dritte sein. Aber der erste verschlief und weckte den zweiten nicht. So gingen wir nicht. Wir hatten es verpasst. Als es gegen Morgen heller wurde, war es unmöglich zu gehen. Das war es. Wir waren im Schlamm eingeschlafen. Aber wir hatten Glück. Für uns unbekannt, waren während der Nacht etliche Häftlinge weggelaufen. Wir waren noch am Morgen auf dem Feld und warteten darauf, zum Zug zu gehen. Da sahen wir, wie Polen die Männer zurückbrachten, die versucht hatten, zu flüchten. Für alle Juden, die gefunden wurden, zahlten die Deutschen einen Finderlohn. Sie zahlten diesen Polen etwas, aber erschossen glücklicherweise diese Juden nicht. Die Deutschen waren zu müde.
Es war August 1944. Zwei Monate früher war Rom von den Alliierten befreit worden und die Alliierten hatten die Normandie erobert. Bevor dieser Monat vorbei war, wurde Paris befreit. Die deutschen Armeen waren aus der Sowjetunion vertrieben worden und waren in einem langsamen blutigen Rückzug über eine Tausend Meilen lange Front vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Die Sowjets waren am Rand von Warschau. Aber wir wussten nicht wirklich, was im Krieg geschah. Wir hatten keine Zeitungen, kein Radio, nichts.
Aber wir hatten nicht länger Furcht. Wir redeten nur vom Überleben und vom Essen, um zu überleben. Nichts anderes. Nichts bedeutete etwas. Wir dachten nicht über unsere Eltern nach. Tag und Nacht, von morgens bis abends, von der Nacht bis zum Morgen redeten wir über Essen, was wir essen würden, wenn wir befreit würden. Wir sagten immer, dass wir nie wieder Kohlrabisuppe essen würden. „Ich werde das essen“ und „ich werde nie das essen“, sagten wir. Alles was wir besprachen war essen, essen, essen, essen.
Wir sprachen nie über Angst. Wir hatten keine Angst. Ein Tier fürchtet nichts. Ein Tier will nur ein Stück seiner Beute. Ein Tier konzentriert sich auf nichts anderes und wir unterschieden uns nicht. In dieser Zeit wurden wir von tierischen Instinkten angetrieben.
Nachdem wir in einen Viehwaggon in Kutno verladen wurden – es war mitten an dem Tag, an dem wir über Flucht gesprochen hatten – begannen wir mit unserer „Vier-Tagesreise nach Dachau“. Wieder gab es nichts zu essen und kein Wasser. Leute wurden krank. Es müssen zwischen 90 und 100 von uns in einem Waggon gewesen sein. Ich weiß nicht wie viele genau. Wir wurden aufeinander gestapelt. Wir krallten uns aneinander. Ein Mann aß in seiner Unzurechnungsfähigkeit seine eigenen Fäkalien. Einige der Männer in unserem Waggon starben. Einer ihrer Körper wurde aufgeschnitten. Häftlinge aßen einen Bissen davon, menschliches Fleisch, rohes Fleisch.
Einmal, als der Zug hielt, gaben uns die Deutschen Konservenfleisch, das sehr salzig war und unseren Durst noch schlimmer machte. Mein Vater sagte: „Esst das nicht. Durstig zu sein und kein Wasser zu haben ist schlimmer als hungrig zu sein und nichts zu essen zu haben.“ Deshalb aßen wir es nicht.
Wir fuhren auf diese Weise vier Tage, bevor wir Dachau erreichten. Dort konnten wir uns kaum aus dem Waggon bewegen. Die Deutschen mussten uns hinausstoßen. Pritschenwagen wurden längs des Zuges gebracht, um die Körper wegzubringen. Ich glaube, dass nicht mehr als 800 von uns Dachau erreichten. Der Rest überlebte nicht. Als wir Warschau verließen, waren wir 8000.
Im August 1944 fuhren die Deutschen fort, Häftlinge nach Dachau zu bringen. Das ging so bis April 1945, bis der Krieg zu Ende war. Von überall aus den von den Deutschen besetzten Gebieten wurden Häftlinge in das Reich transportiert, da die Sowjets westwärts vorankamen. Die Häftlinge, die in Auschwitz gewesen waren, marschierten Hunderte von Meilen von Polen nach Bergen-Belsen in der Nähe von Hamburg in Norddeutschland. Es dauerte Wochen. Meine spätere Frau war in diesem Marsch.
Wussten die deutschen Zivilisten von diesen Dingen? Sie wussten es. Die „speziellen“ Zugladungen mit Häftlingen wurden von ihnen gesehen. Das ist keine Frage. Wir gingen durch ihre Städte und Dörfer in Deutschland und alle sahen uns. Dasselbe traf zu, wenn wir marschierten. Wir marschierten jeden Tag in Deutschland zur Arbeit, durch viele Städte und Dörfer. Die Deutschen konnten nicht verstehen, was sie täglich sahen – Häftlinge wie Skelette, in bizarren Uniformen, schmutzige gestreifte Hosen mit einem Stück Schnur oder Seil festgehalten, ein dünnes gestreiftes Jackett und eine runde Mütze. Da waren wir, hielten unsere Emailschalen, trugen grobe, mit Holzsohlen versehene Schuhe und im Winter schäbige Mäntel, die aus Lumpen gemacht waren, Mäntel, die wenig taugten, um uns vor den kalten Winden und der durchdringenden Kälte zu schützen. Die Deutschen können uns nicht für Kriegsgefangene gehalten haben. Kriegsgefangene trugen die Uniformen ihrer entsprechenden Abteilungen, waren verhältnismäßig gut genährt und ihnen wurde nicht schwächende und qualvolle Zwangsarbeit zugemutet, die wir direkt vor ihren Augen leisteten, jeden Tag. Es kann keinen Zweifel geben, sie wussten es, alle. Die Wachen gingen jeden Tag zu ihren Familien nach Hause, alle von ihnen wussten, was ihre Ehemänner und Väter taten.
Als wir in Dachau ankamen, durchliefen wir denselben Prozess wie früher, um diejenigen zu desinfizieren, die den Marsch von Warschau und die Viehwaggons überlebt hatten. Wir duschten und sie gaben uns Kleidung. Wir bekamen auch Nummern. Meine war 88408. Alles wurde sehr systematisch gemacht.
Dachau war das erste Konzentrationslager in Deutschland und war auf Befehl Hitlers 1933 aufgebaut worden, dem Jahr als er an die Macht kam. In mancher Hinsicht war das Lager peinlich genau. Die Tische, die Stühle und alles andere waren sauber und in Ordnung. Es gab auch weniger Tumult als in den anderen Lagern, denn Dachau hatte mehr Erfahrung in den Abläufen.
Dachau hatte als politisches Lager begonnen. Ein Krematorium wurde dazu gebaut, aber es wurde nur benutzt, um die Körper zu verbrennen, die im Lager gestorben waren. Das Lager hatte viele politische Häftlinge gesehen, Leon Blum eingeschlossen, den ersten Sozialisten und den ersten Juden als Premierminister in Frankreich. Er wurde 1940 von der Vichy-Regierung verhaftet und wurde bis zum Kriegsende weggesperrt. Ebenfalls in Dachau eingesperrt war Kurt von Schuschnigg, der österreichische Kanzler, der 1938 unglücklicherweise Hitlers Forderung nach einem Anschluss an Deutschland widerstand.
Es gab eine ganze Baracke voll mit politischen Gefangenen. Manchmal, wenn wir herumstreunten, trafen wir einige von ihnen. Aber wir kannten ihre Bedeutung nicht. Unser geistiger Stand war nicht der von menschlichen Wesen.
Wir trafen viele Häftlinge, unter ihnen die griechischen Juden aus Saloniki. Sie waren wohlerzogen und waren sehr reich gewesen. In Wirklichkeit waren die meisten der Leute in Saloniki Juden. Die zweitgrößte Stadt in Griechenland war am Sabbat fast komplett geschlossen. Die Juden dort hatten großen Einfluss auf Banken, Handel und Industrie. Die Deutschen besetzten die Stadt 1941 und entfernten praktisch die ganze sephardische jüdische Bevölkerung.
Die einen, die nach Dachau gebracht wurden, waren sehr interessante, intellektuelle Leute. Mein Vater wurde ein guter Freund mit einem von ihnen und sie blieben für eine sehr lange Zeit befreundet. Aber die Saloniki-Juden waren auch gerissen und gewitzt, und wir mussten sehr vorsichtig mit ihnen sein, denn sie bestahlen uns. Sie waren sehr erfahren im „organisieren“. Sie hatten es meisterlich gelernt, denn sie waren für eine lange Zeit in Dachau.
Oft, wenn wir unsere Suppe bekamen, und hatten ein Stück Brot in der einen Hand, schnappten sich die Griechen das Brot. Es verschwand einfach. Jemand hatte vielleicht eine Mütze oder ein paar Schuhe in gutem Zustand, aber wenn sie ausgezogen wurden, verschwanden sie. Dann wurden sie an jemanden verkauft, einem Kapo oder einem Blockältesten für ein Stück Brot oder eine weitere Schale Suppe, um einen besseren Platz auf den Stockbetten zu bekommen oder zu einer Arbeitsgruppe zu kommen, die weniger Rückenprobleme brachte. Die Arbeit, die wir machten, war immer anstrengend, aber manche Arten waren erschöpfender als andere.
Wir wussten nichts über den Verbleib meines Bruders Mendel. Wir hatten keine Ahnung. Mein Vater, Buroch und ich, hatten die Fahrt von Warschau überlebt und waren noch zusammen. Nach einer Woche in Dachau wurden wir mit dem Personenzug nach Mühldorf geschickt, das eine Gruppe von Außenlagern umfasste, etwa 55 Kilometer östlich von Dachau und München. Die Deutschen hatten begonnen viele ihrer Maschinenfabriken unterirdisch zu verlegen. Dazu hatten sie gigantische Bauvorhaben in der Dachauer und Mühldorfer Gegend von Bayern am Laufen. Tausende von Zwangsarbeitern arbeiteten dort. Das Lager, in das wir verlegt wurden, war das Waldlager. Es war in einem Waldgebiet und bestand aus einer Reihe von kleinen Hütten mit schrägen Giebeln, aus Wellpappe gefertigt. Die Insassen jeder Hütte schliefen auf dem dreckigen Boden. Jedem wurde eine Decke gegeben und ein spezielles Lagergeschirr. Es waren mehrere Tausend in diesem Lager.
Als wir das erste Mal im Waldlager ankamen, gab es keine Morde, weil wir noch verhältnismäßig stark waren. Überraschenderweise hatten wir uns von dem Todesmarsch in Polen und den Viehwaggontransport quer durch Deutschland schnell erholt. Für eine Weile waren wir recht strapazierfähig. Das Wetter war nicht zu schlecht, so litten wir nicht so viel. Wir waren jedoch nicht in der Lage zusätzliches Essen zu organisieren. Nichtsdestotrotz kamen wir durch, mir dem was wir hatten.
Unsere Kleidung war noch ziemlich sauber und wir hatten uns noch bei keinen Krankheiten angesteckt. Die Schläge gingen noch nicht los die Bauerarbeiten waren nicht so schwer. Aber allmählich wurde alles schlechter. Der Regen begann im Oktober und die Straßen und Wege wurden schlammig. Es wurde schwieriger für uns, unsere Arbeit zu verrichten. Immer mehr spürten wir die Auswirkungen des Fehlens von ausreichender Nahrung. Und die Schläge kamen immer öfter.
Die meisten Insassen hatten ihre eigenen Schuhe nicht mehr. Sie waren verschlissen und wurden durch hölzerne ersetzt. Unsere Kleidung, eingeschlossen die Unterwäsche, war auch abgetragen. So bekamen wir Papierunterhosen und Papierhemden. Sie waren aus grobem Papier, wie Kaufhaustaschen.
Wir hatten eine tägliche Arbeitsroutine. Es gab eine Betonmischmaschine mit einer Rampe, die zu ihr hinaufführte. Wir mussten 50-Kilo-Säcke Zement zu ihr hinauftragen und den Inhalt in einen Fülltrichter schütten, wo er mit Wasser vermischt und Sand dazugegeben wurde um Beton zu bekommen. Wir trugen die Zementsäcke in 12-Stunden-Schichten. Wir durften nicht stehenbleiben. Wenn man stehen blieb, wurde man geschnappt und entweder geschlagen oder getötet und jemand anderes wurde an den Platz gestellt.
Die Kapos standen da um sicher zu stellen, dass man nicht nachlässig wurde, denn wenn man sich zu langsam bewegte, hätte die Maschine nicht genügend Zement. Man musste diese Säcke die ganze Zeit in der Schicht tragen. Man konnte nicht einmal stehenbleiben, um zur Latrine zu gehen. Man hat einen Sack die Rampe hinaufgetragen und ging auf einer anderen herunter, um den nächsten zu holen. Das ging so für die zwölf folgenden Stunden. Man war immer mit Zement bedeckt und musste ständig den Staub einatmen.
Die Manneskraft musste ständig wieder aufgefrischt werden. Wenige Leute konnten dort eine längere Zeit überleben. Wir wussten deswegen, wenn wir bei der zugewiesenen Arbeit blieben, würden wir das nicht aushalten. Es mussten andere Wege gefunden werden, um zu überleben.
Nun, das taten wir: Nach dem Morgenappell und dem gesüßten Wasser wurde erwartet, dass wir uns aufstellten für den Marsch zum Arbeitsplatz. Wir beschlossen, nicht zu gehen. Wie konnten wir das anstellen? Der Trick war, sich am richtigen Platz aufzustellen. Du durftest nicht am Ende der Reihe sein, denn sie wussten, dass diese Leute sich drücken wollten und sie schnappten sich diese sofort. Dasselbe galt für die in den ersten Reihen. Sie wurden geschnappt. So waren deine Chancen wesentlich besser, wenn du in der Mitte der Reihen warst, also die dritte oder vierte Reihe. Aber jeder wusste das und so wollte jeder dort sein. Es war ein großes Schubsen und Drängeln. Aber es war es wert, denn wenn man hinausging zum normalen Arbeitstag, würde man das nicht schaffen.
Einmal wurde ich erwischt. Wie auch mein Bruder und mein Vater. Aber wir retteten ihn. Wenn einer gefasst wurde, stellten wir sicher, dass jemand schnell in die Reihe geschoben wurde, um seinen Platz einzunehmen.
Als der Herbst kam und es begann kalt zu werden, begannen die Männer zu sterben. Zur selben Zeit wurde die Arbeit härter. Die Kapos waren grausam. Im Waldlager waren fast alle Kapos Juden. Einer von ihnen, ein kleiner Bursche, der ein holländischer Jude war, wurde „Al Capone“ genannt. Er war so grausam, wie man nur sein kann.
Die Arbeit wurde schwerer, aber in dieser Zeit wurde wir erfahrener, sie nicht zu tun. Inzwischen wurde das Essensproblem akuter. Wir verloren die physische Stärke wegen des nicht ausreichenden Essens. Es gab nichts im Lager zu organisieren. Alles was wir zu essen hatten, war das dürftige Essen, das uns die Deutschen gaben. Mein Vater, mein Bruder und ich stahlen nichts von den anderen Insassen. Andere Insassen taten das, aber ich weiß von keinem in unserer Gruppe, der gestohlen hätte. Von Zeit zu Zeit verloren wir etwas von unseren Nahrungsmitteln – Stücke Brot, zum Beispiel, die von anderen Insassen gestohlen wurden.
Als das Wetter kälter wurde, verstärkten wir unseren Entschluss, nicht allen Arbeitsabläufen zu folgen. Der Stundenplan sah für uns jeden Morgen und jeden Abend eine Stunde vor, um zum oder vom Arbeitsplatz weg zu kommen. Zwei Stunden Marsch jeden Tag. Während des schönen Wetters, war das nicht so schlecht. Aber wenn es kalt war, war das nicht auszuhalten.
Wir lernten verschiedene Techniken, um zu überleben. Eine ging so: Wenn wir um 5 Uhr morgens das Lager verließen, war es noch dunkel. Jeden Morgen wurde jedem von uns ein inchgroßes, quadratisches Stück Papier geben, eine Karte, die wir später für das Essen eintauschen sollten. Mit dieser Karte stellten wir uns in der Reihe auf, um eine Schale Suppe zu bekommen. Wir marschierten immer in Gruppen von 100 Mann, fünf in einer Reihe, mit einer deutschen Wache vorne und einer an deren Ende. Ein Kapo war auch vorne. Einem Insassen in der ersten Reihe wurden fünf dieser Papierstücke gegeben, die alle einen Stempel trugen und er würde an jeden eines in der Reihe weitergeben. Ich hatte aber eine Rasierklinge ergattert, um einen gefälschten Stempel machen zu können und die Karten zu drucken. Dann schaffte es eine Gruppe von uns immer in die ersten Reihen zu kommen, wo uns die echten Essensmarken gegeben wurden, wir aber die gefälschten Essensmarken weitergaben, die ich auf Papier gedruckt hatte, das ich organisieren konnte. Mit diesem Verfahren konnte unsere Gruppe mehr Essensmarken anhäufen, die wir in Extrasuppe umsetzten.
Mit der Zeit aber bekamen die Deutschen heraus, dass mehr Marken abgegeben als ausgegeben wurden. In der Folge änderten sie die Farbe des Papiers. Wir brauchten eine Weile bis wir dasselbe farbige Papier fanden, aber wir schafften es. Wir fanden immer neue Methoden, um unseren Plan umzusetzen, bis wir nicht mehr auf diesen Arbeitsplatz gingen – was erfreulich für uns war.
Ein älterer Mann half uns dabei in diesen entscheidenden Momenten zu überleben, ein Jude namens Einhorn, der Jahre zuvor einen Arm verloren hatte, als er in Rumänien aus einem Zug geworfen worden war. Er hatte einen künstlichen Arm aber hatte in Auschwitz Glück, dass es unentdeckt blieb. Sonst wäre er wegen seiner physischen Behinderung ausgelöscht worden. Irgendwie konnte er die Untersuchung in Auschwitz überstehen, bekam letzten Endes einen Posten, den die Deutschen in unserer Mühldorfer Gruppe „Polizist“ nannten. Es war Einhorn, der im Voraus wusste, welche Papierfarbe am nächsten Tag für die Essensmarken benutzt wurde und der uns ein paar Blätter davon lieferte.
Mit der Zeit fiel unser Plan um mehr Suppe zu bekommen ins Wasser, denn das Wetter wurde frostiger. Wir versuchten jedoch weiterhin, Wege zu finden, die Arbeitserschwernisse zu vermeiden.
Das unterirdische Projekt, dem wir zugewiesen wurden, beinhaltete den Bau gigantischer Flugzeughangars, von denen vermutet wurde, dass sie bombensicher waren, von Wänden und Decken, die bis zu 20 Meter dick waren. Die Baustelle wurde von der Organisation Todt betrieben, die Rüstungsbetriebe für das deutsche Militär baute, einschließlich dem Bau verschiedener Fabriken und militärischer Lagerhäuser. Nachdem Todt getötet worden war, übernahm Albert Speer die Direktion dieser organisierten Versklavung. Die Aufsichtführenden der Organisation Todt hatten quasi militärische Uniformen an, schwarze oder braune Hosen, khakifarbene Jacketts, Schirmmützen und Armbänder. Sie waren diejenigen, die die Arbeit anschafften, ausgeführt von den Insassen der Lager.
Um diese Arbeit zu tun, holten die Deutschen eine große Zahl Sklavenarbeiter heran, nicht nur Juden, sondern auch Russen und Kriegsgefangene von verschiedenen Nationen. Wir hatten jedoch keinen Kontakt mit den anderen. Wir konnten verschiedene Gruppen auf der Baustelle sehen, aber wir waren nie mit ihnen zusammen. In Wahrheit waren die Baustellen so groß, dass es für die verschiedenen Gruppen sehr schwierig gewesen wäre, in Kontakt zu kommen. Von uns wurde erwartet, unsere Arbeit zu tun und die anderen Häftlinge taten ihre.
In unserem Lager waren viele Häftlinge zusätzlich zu denen, die aus Warschau gebracht worden waren. Manche waren deutsche Kriminelle, zu erkennen an den roten Dreiecken auf ihren Häftlingsuniformen. Einige waren polnische Juden, die nach Frankreich oder Belgien emigriert waren. Sie waren einige Zeit Häftlinge gewesen und können als barbarisch bezeichnet werden. Als solche waren sie sehr gut ausgebildet. Von dieser Gruppe wurden die Kapos und Blockältesten berufen. Die Kapos waren nicht damit zufrieden, nur zu überleben. Sie wollten mehr Essen, Whiskey, Kleidung, mehr von allem was sie kriegen konnten.
Als Kapo oder Blockältester wurdest du nicht plötzlich barbarisch. Du hast es nach einiger Zeit beherrscht. Dann wurdest du ein Experte. Sie wurden immer mit fortschreitender Zeit wilder. Umso grausamer sie waren, umso besser waren ihre Chancen zu überleben. Sie hatten eine angeborene Neigung barbarisch zu sein; nun, an diesem unaussprechlichen Ort, hatten sie die Gelegenheit, sie auszuleben. Aber es war nicht genug, Häftlinge schlecht zu behandeln; die Kapos raubten ihre Opfer aus von allen erbärmlichen Besitztümern, die sie sich auch haben wollten.
Als Anführer wollten die Kapos und Blockältesten mehr tun als nur überleben. So nahmen sie sich von anderen Insassen die Dinge, die sie wollten, Essen, Zigaretten, Whiskey oder bessere Kleidung. Es gab eine Menge Handel. Von Zeit zu Zeit konnten die Insassen auf der Baustelle handeln und sie brachten zurück, was sie erhalten hatten, um mit den Blockältesten und Kapos im Lager zu handeln.
Es gab natürlich verschiedene Wege für die Blockältesten und Kapos zu bekommen, was sie wollten. Wenn jemand zum Beispiel eine Jacke hatte, die sie wollten, schlugen sie ihn entweder oder nahmen sie ihm einfach weg oder sie töteten ihn – was nicht ungewöhnlich war. Oder sie tauschten etwas dafür. Vielleicht gaben sie dem Besitzer der Jacke ein bisschen mehr zu essen.
Manche Kleidungsstücke wurden ihm Lager selbst gemacht. Es gab viele Insassen, die Schneider waren. Was bestimmte, ob du die Spitze der Macht erreicht hattest, war die Art der Mütze, die du trugst. Den Kapos und Blockältesten wurde erlaubt Mützen zu tragen wie die Zivilisten. Ich weiß nicht, warum. So machten sie einige von ihnen oder hatten einfallsreiche Mützen mit Borten von denen sie dachten, dass sie auffälliger als Mützenschirme seien.
Die Wahrheit ist, dass kein Kapo oder Blockältester ein Intellektueller war. Die Kapos überlegten nicht. Alle Handlungen waren Reflexe. Wenn ein Kapo einen Deutschen kommen sah, entweder einen SS-Soldaten oder eine Soldaten der Wehrmacht, war das erste was er tat, sich jemanden zu greifen und zu beginnen, ihn zu schlagen. Das war, wie sie ihren Job interpretierten.
Wenn du sie etwas fragtest, würden sie dir nicht antworten. Stattdessen schlugen sie dich und sie schlugen dich immer auf eine Stelle des Körpers, von der sie wussten, dass sie dir sehr weh tat, dich zum Umkippen brachte oder sogar tötete. Mit einem oder zwei strategisch platzierten Schlägen töteten sie tatsächlich Menschen. Es geschah oft, besonders mit Häftlingen in geschwächtem Zustand.
Keiner der Kapos hatte einen Sinn von Moral. Wenn sie ihn einmal hatten, dann war er längst vorbei. Das einzige was sie hatten, war ihr Machtstatus. Für einen Blockältesten war klar, dass er eine Reihe Leute für sich arbeiten ließ. Das bedeutete natürlich, dass er diese Leute unterstützen musste. Wie machte er das. Er benutzte das Essen.
Der Blockälteste hatte die Kontrolle über die Kessel mit der Suppe und seine Verteilung. Er nahm das Maß mit dem Schöpflöffel. Wenn er ein bisschen weniger in die Schale eines Häftlings gab, war mehr für seine Untergebenen übrig. So spielte er seine Macht aus und das war die Macht über Leben und Tod.
Mit dem späten September und Anfang Oktober kamen die jüdischen Feiertage. Unter uns waren damals außergewöhnliche Schriftgelehrte. Einer von ihnen war Rabbi Yekusiel Yehuda Halberstam, ein großer Rabbi. Er war Rabbi in der Stadt Klausenburg (auch Cluj genannt) in Rumänien. Er kam von der Stadt Rybnik in polnisch Galizien und war der Schwiegersohn des Rabbi von Sighet. Als sehr gelehrter Mann wurde der Klausenburger Rebbe bereits im Alter von 13 Jahren als Genie betrachtet. Während des Krieges wurden seine Frau und 10 seiner 11 Kinder in Auschwitz ermordet. Das elfte Kind starb in Auschwitz später an Typhus.
Der Rabbi war bei uns seit dem Konzentrationslager in Warschau und war bei uns in Dachau und in der Mühldorfer Gruppe. Am Anfang wussten wir in Warschau nicht, wer er war, aber allmählich, als er mit uns redete, bekamen wir mit, mit welcher enormen Strenge er das Anwenden der Schrift und seine Geistlichkeit betrachtete.
In Warschau war er der härtesten Arbeit zugeteilt worden. Mit etwa 300 anderen Insassen arbeitete er im Rangierbahnhof, wo Steine in Züge verladen wurden um nach Deutschland gebracht zu werden. Die Häftlinge standen in langen Reihen, um einen Stein zum anderen weiterzureichen. Sie mussten sehr schnell arbeiten und der Rabbi konnte nicht mithalten. Viele der Insassen wollten ihm helfen, durften aber nicht. Er litt schrecklich.
Dieser Mann, der zu dieser Zeit einer der größten jüdischen Schriftgelehrten der Welt war, war mit uns im Waldlager. Mein Vater sagte uns, wir sollten ihm zuhören, denn er hätte etwas zu sagen. Er würde uns moralische Stärke vermitteln. Wir hatten keine Ahnung davon. Als wir anfingen zu diskutieren, warum dies oder das passierte, sagten einige Leute, dass es keinen Gott gab. Wie konnte er zulassen, was geschah? Einige sagten, wenn es einen Gott gab, warum waren wir dann da? Diese Diskussionen wechselten sich ab mit unseren Diskussionen über das Essen. Es gab Diskussionen über Gott und Diskussionen über Essen und Diskussionen darüber, was wir tun würden, wenn wir frei kämen. Wir fürchteten nie, dass wir nicht hinauskommen würden. Wir hatten immer Hoffnung. Wir wurden ermutigt weiterzumachen, weil die Feiertage kamen und Gott uns helfen würde.
Der Vorabend von Rosh Hashanah 1944, dem Vorabend des neuen Jahres, war ein Sonntag. An manchen Sonntagen arbeiteten wir, an den meisten nicht. Die Sonntagnachmittage waren die Zeit, wo man im Lager herumlungerte und miteinander sprach. Es war auch die Zeit wo man desinfiziert wurde und duschte.
Das Verfahren war, die Kleider abzulegen und sie umzudrehen, um sie in eine Desinfektionsmaschine zu stecken, so dass die Läuse getötet wurden. Jede Person hatte eine Decke, die auch hineingesteckt wurde, um desinfiziert zu werden. Manche von den sogenannten Hütten waren nahe bei den Duschen, andere nicht. Wir liefen nackt von unserer Hütte zu den Duschplätzen, ob es schneite oder regnete, kein Problem. Das war der Ablauf. Wenn wir aus den Duschen herauskamen, waren wir nackt ohne Schuhe. Dann wurde uns unsere Decke zurückgegeben und wir gingen, um unsere Kleidung abzuholen.
Die Kleidergröße war für uns alle nicht wichtig. Wenn sie uns nicht passten, waren wir gewöhnlich in der Lage, uns andere Lumpen zu organisieren. Wichtiger waren die Schuhe. Manche von uns hatten noch die Originalschuhe von daheim. Es war äußerst wichtig sie zu behalten. Andernfalls musstest du hölzerne anziehen.
Die eigenen Schuhe zu haben war notwendig, denn hölzerne erzeugten endlos schmerzhafte Schwielen. Sogar mit unseren eigenen Schuhen hatten wir offensichtlich Probleme. Aber es war wichtig, diese Schuhe zu behüten. Wenn die Kapos sahen, dass jemand gute Schuhe trug, wollten sie diese haben. Wenn du dich geweigert hast, dann schlugen sie dich. Oder töteten dich sogar. So tat jeder sein Bestes um abzusichern, dass seine Schuhe dreckig und altersschwach aussahen, denn wenn sie zu gut aussahen, würden sie die Kapos nehmen und du würdest mit groben hölzernen Schuhen dasitzen.
Ich hatte noch meine Schuhe und meine Brille. Ich weiß nicht warum, aber sie verschwanden nie.
An Rosh Hashanah, haben die Juden einen Brauch, dass sie Süßes essen, wie Honig. Aber wo würden wir im Konzentrationslager Honig bekommen. Alle drei oder vier Wochen bekamen die Häftlinge Stücke Kunsthonig, gemacht aus Zucker und gelegentlich Margarine. Weil wir wussten, dass Rosh Hashanah bevorstand, beschlossen wir, für Honig zu tauschen, um es dem Rabbi für seinen Dienst zu geben.
Die Hütten standen in einem Halbkreis und die Hütte des Rabbis war in unserer Nähe. Der Blockälteste „wohnte“ auch in einer von ihnen. In diesem Gebiet durften wir frei herumgehen. Dass bedeutete, dass an Rosh Hashanah jeder zum Rabbi gehen konnte und einen Geschmacksprobe Honig bekam. Alle, der Blockälteste und andere wilde Kerle eingeschlossen, gingen um einen Tropfen zu bekommen, weil sie irgendwie das Gefühl hatten, sie mussten Teil des Rituals sein.
Dann mussten wir bestimmte Gebete sprechen. Aber keiner hatte Gebetbücher. So sagten wir auswendig Gebete, wenigstens diejenigen, die sich an eines erinnerten. Der Rabbi natürlich kannte alle Gebete. Sonntagnacht war es aber nicht erlaubt, sich zu versammeln. Es wurde angenommen, dass du in deinem eigenen Quartier bist. Irgendwie gelang es uns aber, uns in der Hütte des Rabbi zu versammeln und die Gebete dort zu sprechen.
Dasselbe wurde am Morgen auf dem Weg zur Arbeit wiederholt. Der Marsch dauerte etwa eine Stunde. Wieder gab es etliche Insassen, die sich an bestimmte Teile der Gebete erinnerten und sie laut aufsagten.
Die jüdischen Gebete an Rosh Hashanah sind sehr hochgeistig mit großer und bewegender Poesie. Für diese Gebete wurden spezielle Bücher gedruckt. Sie enthalten viele Lieder. Jeder der marschierte sagte Gebete und die Wachen hörten sie selten, denn sie waren nur am Anfang und am Schluss.
Im Waldlager marschierten wir immer in Gruppen zu je 100, fünf in einer Reihe, zwanzig Reihen. Wenn die Wachen manchmal die Gebete hörten, schrien sie, dass sie schlagen würden, aber wir machten weiter.
Es sollte angemerkt werden, dass zu dieser Zeit niemand wirklich an Religion dachte. Du dachtest nicht wie ein normales menschliches Wesen. Du gingst nicht zum Rabbi aus religiösen Gründen. Du kamst, weil es einen jüdischen Brauch an Rosh Hashanah gab, etwas Süßes zu essen. Manche der Häftlinge mögen nie religiös gewesen sein, aber sie kamen wegen einem Tropfen Honig, weil sie unterbewusst Teil der jüdischen Traditionen und Bräuche sein wollten.
Yom Kippur, der Tag an dem Juden fasten, war 10 Tage später. Es war ein Mittwoch. Am Tag vor Yom Kippur, der heiligsten Zeit, war Dienstag. Das ist die Zeit um den Kol Nidre-Gottesdienst zu singen, der eine sehr eindringliche und emotionale Melodie hat, die jeder Vorsänger unterschiedlich singt. Der Klausenburger Rebbe war der geistige Führer des Lagers. Er wusste, wie man die Bedeutung dieses Gottesdienstes und dieses Gebetes hervorheben konnte.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob wir an diesem Abend zu den Gebeten zu ihm gingen. Ich denke, wir sagten sie in unseren Hütten. Wo immer wir waren, begann plötzlich jeder das Kol Nidre zu singen. Jeder sang mit. Wir machten uns keine Sorgen, dass uns jemand hörte, denn im Lager waren zu dieser Zeit keine Deutschen. Die waren alle außerhalb des Lagers. Es wurde zu dieser Zeit vom Blockältesten und seinen Assistenten geführt. In diesem Lager hatten nicht einmal die Kapos bei diesen Dingen viel zu sagen.
Leute wie die ukrainischen Wachen waren nur bei uns, wenn wir zur oder von der Arbeitsstelle weg marschierten. Die Lager wurden immer von den Insassen organisiert. Der Blockälteste war der „big boss“ und er hatte seine zwei Assistenten. Die Kapos waren die, die das sagen an den Arbeitsplätzen hatten. Die ukrainischen Wachen waren die, die sicherstellten, dass du nicht weggelaufen bist. Sie waren die, die dich einfangen würden, dich zurückbringen, dich schlagen und dich sogar erschießen würden.
An diesem Yom Kippur waren wir nicht darauf bedacht, wer uns hören konnte. Wir beschäftigten uns nur damit, die Gebete zu singen. Ich glaube, der Blockälteste stimmte auch mit ein. Er war schlecht, aber wir erhielten später einen großen Gefallen von ihm, als mein Vater in großer Gefahr war.
Der Mittwoch war Yom Kippur, mit seinem Brauch zu fasten. In der Nacht zuvor hatte wir etwas Suppe bekommen und unsere übliche Portion Brot. Am Morgen des Yom Kippur hatten wir unseren sogenannten „Kaffee“. Am Mittag würde angeblich ein Wagen zur Baustelle gebracht, der unseren Suppenkessel beförderte.
Am Morgen tranken wir unseren Kaffee nicht. Beim Marsch zur Arbeit war eine große Diskussion, ob wir die Suppe essen sollten und wenn wir das täten, ob damit das Fasten gebrochen würde. „Wie kannst du das tun. Von einem Juden wird erwartet, dass er fastet.“ Auf der anderen Seite fragten wir uns, wenn wir nichts aßen, wie würden wir die Arbeit überstehen.
Die Diskussion wurde auf der Baustelle weitergeführt. Was sollten wir tun? Wir fragten unseren Vater, der zu dieser Zeit noch mit uns arbeitete. Niemand konnte uns eine Antwort geben. Die Leute sagten, dass wir nicht überleben würden, wenn wir nicht etwas aßen. Andere waren der Meinung, dass Suppenessen nicht als Sünde gesehen werden könnte, wenn man die Verfassung in Betracht zog, in der wir waren. Und – wer hätte das gedacht – als der Wagen von zwei Insassen gezogen zur Baustelle gebracht wurde, kippte er um und die Suppe wurde verschüttet. Das war das Ende der Diskussion. Niemand bekam etwas zu essen an diesem Tag, so wurden wir gezwungen zu fasten. Als wir am Abend zum Lager zurückkamen, lief jeder schnell um sich aufzustellen für das Essenfassen.
Danach waren immer mehr regnerische Tage und immer mehr Insassen wurden krank. Als Ergebnis verminderte sich die Zahl der Häftlinge in unserer Gruppe. Es war die Zeit, als die Deutschen im Waldlager begannen, was sie „Selektion“ nannten. Die schwächsten Insassen wurden zu einem Krematorium gebracht. Ich glaube, einige wurden nach Auschwitz gebracht und einige nach Dachau. Während dieser Zeit im Herbst 1944 wurden wir Veteranen. Wir waren zusammen mit den älteren Häftlingen, mit denen, die wesentlich länger dort waren und wir wussten, was los war. So wussten wir, was man „Selektion“ nannte.
Die Deutschen hatten ein neues Wort geprägt „Muselmann“, mit dem sie Häftlinge zu beschreiben pflegten, die wirklich Skelette waren, Leute im letzten Abschnitt vor dem Tod. Das schlimmste war für einen, als Muselmann betrachtet zu werden. Das bedeutete, dass der Häftling automatisch herausgezogen wurde und zu einem Krematorium gebracht. Jeder Insasse versuchte deshalb seine Stärke zu zeigen, damit er nicht unter diese Kategorie fiel.
Im Oktober, kurz nach Yom Kippur, fingen die Deutschen an ihre Selektionen zu machen. Sie befahlen uns, uns zu entkleiden und sie gingen an uns vorbei und betrachteten uns. Die Leute, die die Selektion durchführten waren sogenannte Ärzte, zwei von ihnen.
„Du gehst“, sagten sie oder „du bleibst“. Und sie nahmen deine Nummer auf und das war es. Kurz danach brachten sie dich in einen Waggon und transportierten dich zur Vergasung. Das war Routine.
Inzwischen verloren die Arbeitsgruppen ihre Arbeiter und die Organisation Todt brauchte mehr Arbeitsleistung. Deshalb transportierten die Deutschen mehr Häftlinge von anderen Lagern heran. Jedes Mal, wenn sie die Insassen aussortierten, die als unproduktiv eingestuft wurden, brachten sie neue heran.
Als die Deutschen ihren Rückzug vor der sowjetischen Armee begannen, wurden die Todeslager in Polen geschlossen und ihre Insassen auf Märschen oder mit dem Viehwaggon nach Deutschland gebracht. Bayern wurde der hauptsächliche Sammelort. Es war als letzter Teil Deutschlands übriggeblieben, der dem Ansturm der Alliierten widerstand. Das war der Grund, warum die Deutschen dort Untergrundbunker und –fabriken bauten. Die meisten der Sklavenarbeiter, die Häftlinge, die in der Lage waren für die verbliebene deutsche Kriegsmaschinerie zu arbeiten, wurden nach Bayern gebracht. Es war das größte Bauprojekt für die größte Untergrundeinrichtung. Ihre Fertigstellung hatte bei den Deutschen oberste Priorität.
Wenn wir vermieden, auf die Baustelle zu gehen, konnten wir entweder Arbeitsaufgaben im Lager übernehmen oder nichts tun. Nichts zu tun aber war nicht schlau. Du musstest wirklich vorgeben etwas zu tun, auch wenn es nur eine Arbeitszuordnung war, die du für dich selbst geschaffen hast. Du musstest immer etwas zu tun haben. Das bedeutete, dass du dir einen Schubkarren gegriffen hast. Es war egal, wem er gehörte. Wenn jemand einen Schubkarren nutzlos herumstehen ließ, griff man zu. Es war deiner. Oder man griff eine Schaufel oder einen Eimer – tu so, wie wenn du etwas machen würdest.
Manchmal spieltest du vor, als wenn du etwas waschen oder säubern würdest oder einfach etwas mit einem Ziegelstein in der Hand anstelltest. Manchmal trafen sich drei Insassen, einer mit einer Schaufel, einer mit einem Ziegelstein und einer mit einem Eimer und sie gaben vor, dass sie etwas befestigen würden. Natürlich, wenn sie dich erwischten und feststellten, dass du dich um deine Arbeit herumdrücktest, dann wurde du ernsthaft verprügelt. Wenn du nicht etwas machtest, was produktiv ausschaute, dann liefst du Gefahr dass du erwischt wurdest, denn die Quoten der Organisation Todt mussten erfüllt werden. Für die Organisation mussten die Soldaten so und so viele menschliche Körper bereitstellen. Sie scherten sich nicht darum, welche Körper. Und manche der Leute der Organisation Todt waren so schlimm wie die Blockältesten, die Kapos, die Wehrmacht und die SS.
Im Laufe der Zeit wurden wir mehreren Arbeitsplätzen zugeordnet. Um zu ihnen zu kommen, musstest du von unserem Lager quer durch eine Stadt gehen, manchmal mehr als eine. Die deutschen Zivilisten sahen uns daher mehrere Male. Wir gingen am Morgen dorthin und kamen am Abend zurück und immer durch eine Stadt. Die deutschen Zivilisten sahen uns deshalb mehrmals, besonders am Abend wenn sie in ihren Häusern waren oder auf der Straße. Da gab es keinen Zweifel. Die deutschen Zivilisten sahen uns. Sie verhielten sich daher wie wenn das normal für sie wäre, wenn die zerlumpten, hungernden Männer in ihrer zerrissenen Häftlingskleidung mit den rasierten Streifen in der Mitte ihrer Köpfe, mit bewaffneten Waffen vorbeimarschierten.
An Weihnachten arbeiteten wir einen halben Tag. Wir sahen die Dekorationen in der ganzen Stadt und die Deutschen konnten uns marschieren sehen. Da waren Tausende von uns, viele Tausend und die Deutschen konnten uns an Weihnachten sehen.
Unser Lager war abgelegener als andere, aber es war nicht so abgelegen. Es war nur etwa vier Kilometer entfernt und wir liefen täglich durch. Es gab vier Lager in der Mühldorfer Gruppe und viele Städte in dieser Gegend. Eine andere Stadt in der Nähe war Ampfing. Es gab viele Lager, denn die Deutschen wollten Tausende von Insassen, die ihre Arbeit erledigten. Folgerichtig gab es viele Wachen und sie gehörten der Wehrmacht an. Sie waren in den Vierzigern und sogar in den Fünfzigern. Es gab keine jungen. Es waren Leute von dort und sie lebten mit ihren Familien dort. Die Deutschen sahen uns – sie wussten Bescheid. Sie beobachteten unser Marschieren jeden Tag, eine Parade von hungernden, erschöpften Kreaturen, die mehr wie Skelette denn wie Menschen aussahen.
Die Nachtschicht war die schlimmste. Zusätzlich zu der mörderischen Arbeit war es kalt, sehr kalt. Zusätzlich war es in der Nacht schwieriger sich zu verstecken, um die Arbeit zu vermeiden und du hattest keine warme Kleidung. Du wusstest, dass du nicht überleben würdest, wenn du diese 12-Stunden-Schichten gearbeitet hast. Ich lernte das ganz schnell. Niemand konnte diese Schichten regulär überleben – mag sein für einige Nächte, aber nicht dauernd. Deshalb suchte ich nach einem Platz zum Verstecken, wenn ich der Nachtschicht zugeteilt wurde.
Wo konnte ich mich verstecken? Ein Ort war die Latrine. Der andere war hinter einer Wand irgendwo. Die Insassen blieben verschwunden und die Wachen suchten nach ihnen. Wenn sie dich fanden, wenn du dich vor der Arbeit verstecktest, würden sie dich totschlagen.
Auf einer der Arbeitsstellen verschwand ich mitten in der Nacht, aber ich wurde erwischt und gnadenlos geschlagen. Später konnte ich noch einmal weglaufen. Ich würde nicht dort bleiben und mich schlagen lassen.
Die zehn von uns, eingeschlossen mein Vater, mein Bruder und die anderen 7 Männer von Viseu, vermieden es, auf derselben Arbeitsstelle zu sein. Wir konnten unterscheiden, was die besseren und was die schlimmeren Arbeitsplätze waren. Es gab bestimmte Orte, die nicht so schlimm waren wie andere. So erzählten Mitglieder unserer Gruppe dem Rest, zu welcher wir gehen sollten oder zu welcher nicht. Wir konnten tauschen.
Es gab immer das Risiko, dass man erwischt wurde und auf eine Arbeitsstelle geschickt wurde, die schrecklich war. So war die Idee, dass man nicht erwischt werden konnte. Aber es gab nicht genug gute Jobs. Einmal aber kamen die Wachen und suchten nach einem „Spezialisten“ der besonderen Art: nach einem Buchbinder. Ich meldete mich freiwillig, obwohl ich nichts über Buchbinden wusste, als was ich beobachtet hatte, als ich einem dabei zugeschaut hatte. Sie nahmen mich in ein warmes Quartier mit, das zum Lagerkommandanten gehörte. Er hatte einige Bücher zu binden, die er mir gab und sagte: „Mach voran. Mach es.“ Ich wusste, dass ich etwas Mehl und Wasser brauchte, um einen Kleister zu machen und dass ich Papier haben musste. Ich fragte danach und es wurde mir gebracht. Aber nach 5 Tagen konnte der Kommandant sehen, dass ich kein Buchbinder war. Ich gab es zu. Das war das Ende meiner speziellen Beschäftigung.
Der Kommandant des Waldlagers war ein Mitglied der SS. Er war früher Lehrer und so seltsam es klingt, ein anständiger Mensch. Nach dem Krieg, vor dem Kriegsgericht, bezeugte ich in seiner Hinsicht, dass er ein guter Mann war.
Wir versuchten weiterhin, Zuweisungen zu bekommen, die Wärme und ein bisschen mehr Essen versprachen. Wir waren nie sehr erfolgreich, was Nahrungsmittel betrifft. Einem Mitglied unserer Gruppe aber gelang es, erfolgreicher zu sein als die anderen. Es war mein Bruder. Einhorn, der Lagerpolizist, verschaffte meinem Bruder einen Job in der Küche als Kesselwäscher, das ihm ermöglichte, mehr Essen zu bekommen.
Der beste Arbeitsplatz war in der Küche zu arbeiten. Du bekommst dort zu essen und du warst in der Lage etwas mehr zu organisieren – eine rohe oder gekochte Kartoffel zum Beispiel. Es war sehr schwierig zu stehlen, aber manchmal gab es ein Extrastück Fleisch oder andere Nahrungsmittel. Deshalb war es möglich, dass mein Bruder beinahe jeden Tag einen Teller Kartoffelbrei für meinen Vater bekommen konnte. Buroch gab es mir und ich brachte es meinem Vater, der zu dieser Zeit im Krankenbereich war, genannt „Revier“.
Es gab zwei Arten von Krankenbereichen. Eines war, wo sie die Muselmänner behielten. Die Deutschen merkten, dass diese nicht mehr arbeiten konnten. Diese Männer hatten ihren Lebenswillen verloren. Die Deutschen behielten sie dort, um sie sterben zu lassen oder zur Selektion zu bringen, was zur Hinrichtung bedeutete. Ihnen wurde nur wenig zu essen gegeben. Sie waren nackt. Jeder hatte nur eine Decke, sonst nichts. Sie warteten nur, bis sie starben.
Der andere Krankenbereich war die Klinik, genannt „Revier“. Das war dort, wo mein Vater sich aufhielt. Das war am Anfang des Winters 1944/45. Mein Vater konnte etwas Extraessen bekommen, das ich ihm brachte. Vorher hatten wir schon bemerkt, dass mein Vater, wenn er auf die Baustelle ging, nicht mehr viel tun konnte. Dann hörte er auf, zur Baustelle zu gehen. Wir konnten ihn im Lager behalten, weil der Blockälteste irgendwie eine Beziehung zu ihm entwickelt hatte.
Zusätzlich zu meinem Vater, meinem Bruder und mir waren zwei andere Väter und Söhne im Lager. Ein Vater überlebte nicht. Der andere lebte bis sieben Tage nach dem Krieg. Sein Sohn lebt noch und ich sehe ihn von Zeit zu Zeit.
Der Blockälteste schützte meinen Vater so gut er konnte. Wir konnten ihn auf unbestimmte Zeit in der Klinik halten, sogar als vorgesehen war, dass er zu den Muselmännern verlegt werden sollte.
Ich konnte in die Nähe der Küche gelangen, um von meinem Bruder Essen für meinen Vater zu erhalten. Das war gegen die Regeln, denn es war nicht erlaubt, von Ort zu Ort zu gehen. Wenn sie dich erwischten, würden sie dich zu Tode schlagen. Aber ich konnte es tun, weil der Blockälteste wegschaute.
Zu dieser Zeit waren viele im Lager an Ruhr erkrankt und viele Insassen starben daran. Es war keine Medizin erhältlich, nichts um sie zu behandeln.
Die ganze Zeit machte mein Vater weiter, ein Berater zu sein. Er beriet andere Häftlinge, was sie tun sollten. Die Insassen aus unserer Stadt orientierten sich sehr an ihm. Er war die ältere Person, auf die wir Jüngeren schauten und fragten: „Was machen wir jetzt?“
Mein Vater, der im ersten Weltkrieg gewesen war, wusste wie Dinge funktionieren konnten. Aber er war auch überzeugt, dass wir es irgendwie schaffen würden. „Machen wir ein Minimum von dem was wir machen müssen“, sagte er uns. Er war nie so deprimiert bis zu dem Punkt wo man sagt „Was nützt das alles?“
In der Zwischenzeit half uns der Blockälteste ein bisschen. Wir wussten, dass die „Selektion“ bald stattfinden müsse und wir mussten es schaffen, dass mein Vater nicht genommen wurde. Wir brachten ihn von der Klinik in eine Hütte, um ihn vor der Selektion zu bewahren.
Am Herbstbeginn, als wir eineinhalb Monate im Waldlager waren, begannen die deutschen Vorbereitungen für zusätzliche Häftlinge. Sie bauten mehr Hütten mit spitz zulaufenden Dächern. Sie lagen an zehn „Straßen“, jede hatte 10 Hütten. Die Insassen schliefen in diesen Hütten auf dem Boden. Wenn es in die alten Hütten regnete, kam das Wasser herein und sammelte sich dort wo man lag. In den neuen war Stroh, um darauf zu schlafen, aber die Nässe war auch dort.
Auf jeder Seite einer Hütte schliefen 15 Mann, also insgesamt 30 pro Hütte. Es gab Decken aber keine Kopfkissen. An einem Ende war ein Ofen. Es gab eine Türe, aber keine Fenster. Während des Tages blieb die Tür offen, um zu lüften. Die Latrine war ein gutes Stück weg. Um das Lager war Stacheldrahtzaun. Unsere Hütte war in Straße Nummer drei in der neuen Abteilung des Lagers.
Jede Hütte sah so aus, dass man nur in der Mitte stehen konnte. Wenn du deshalb hereinkamst, zogst du deine Jacke aus und krabbelst auf deinen Platz, wo du im Schmutz schlafen würdest. Deine Jacke wurde dein Kopfkissen und darunter stecktest du deine Schale, wenn sie nicht gestohlen wurde. Diese Schale war wirklich dein einziger Besitz. Welche kleinen Dinge du auch immer organisiertest, sie wurden immer unter dieser Schale versteckt.
Als der Winter einsetzte, begaben wir uns von einem Arbeitsplatz zum anderen und versuchten immer so wenig zu tun, wie wir konnten. Einmal, als ich im Winter im Dunkeln nach 12 Stunden auf der Hauptbaustelle ins Lager zurückkam, sah ich plötzlich die großen Scheinwerfer des Lagers angehen. Scheinwerfer wurden für Appelle benutzt.
Als ich ins Lager kam, war ich schmutzig und mit Zementstaub bedeckt. Ich meine total bedeckt. Ich sah, dass die Deutschen eine Selektion machten. Sie selektierten Leute, die ins Krematorium gehen sollten. Dann bemerkte ich etwas Seltsames. Anstatt das Essen in unserer Hütte zu bekommen, wie das normalerweise ablief, war es direkt vor uns. Natürlich war ich hungrig, deshalb ging ich dort hin, als ich sah, dass sich eine Reihe anstellte.
Diese Reihe stellte sich als die Gruppe heraus, die zum Krematorium gehen sollte. Alles, was die Deutschen machten, war, die Nummer von den Leuten aufzuschreiben, die in der Reihe standen und das war es. Unbekannterweise für mich war ich plötzlich einer von denen, die zum Sterben ausgesucht waren.
Als ich das Essen bekam, sah mich mein Vater und rief: „Oh mein Gott. Was ist passiert?“ Aber er wusste es bereits. Die Gerüchteküche im Lager wusste es auch schon – dass ich für das Krematorium ausgewählt war.
Die Wachen gaben meine Nummer dem Blockältesten und sagten ihm, dass er in seinem Block mit den selektierten Männer, mich eingeschlossen, anfangen sollte. Das sind ihre Nummern, sagten die Wachen. Es gab keine Namen. Wenn die Deutschen sagten, sie bräuchten 300 Insassen für das Krematorium, wurden sie besser geliefert.
Deshalb war ich einer von denen, der ein paar Tage später geliefert werden sollte. Es war dann Mitte der Woche. Mein Vater versuchte herauszubekommen, was er tun konnte, um mich zu retten. Er ging zu Einhorn und bat um Hilfe.
Einhorn sagte, dass ich zuerst einmal gewaschen und rasiert werden sollte. (Einmal in der Woche oder zwei wurden wir vom Lagerarzt rasiert, der ein Rasiermesser ohne Seife benutzte. Es wurde so grausam wie möglich gemacht. Das Rasiermesser war immer stumpf und wurde nie geschärft. Es war die reine Tortur.)
Zu dieser Zeit war ich unrasiert und noch bedeckt von dem Zementstaub. Sogar meine Brille war verkrustet von dem Zementstaub. Ich war 18 Jahre alt, aber mein Aussehen ließ die Deutschen vermuten, dass ich bereit war ins Krematorium zu gehen. Wenn du mit einer Schicht fertig warst, dann sahst du so aus. Zusätzlich war ich sehr mager. Ich war nie dick, aber gegen Ende des Krieges wog ich nur 75 Pfund. Einhorn besorgte mir eine Uniform und rasierte mich. Ich erinnere mich, dass ich für die Rasur bis zum Sonntag warten musste, denn das war die einzige Zeit, wenn der Barbier kam. In der Zwischenzeit erzählte mir Einhorn, dass ich zwei Tage nicht zur Arbeit gehen sollte, weil ich in Quarantäne eingeteilt war, um auf das Krematorium zu warten.
Nachdem er mich gesäubert hatte, ging er zum Lagerkommandanten und erzählte ihm, dass es da einen Fehler gegeben hatte, dass ein gesunder junger Mann für das Krematorium ausgewählt worden war und dass ich als Arbeiter gebraucht würde. Der Lagerkommandant stimmte zu und das war das Ende von dieser Geschichte. Jemand anderer wurde ausgewählt, so dass die deutschen alle ihre Nummern haben konnten. So liefen die Dinge.
Nach dem Krieg lebte Einhorn in Argentinien und wurde sehr reich, als Unternehmer. Er starb vor nicht langer Zeit in Israel, wo ich ihn von Zeit zu Zeit gesehen habe. Als Lagerpolizist schadete er nie einem Insassen. Er war ein sehr anständiger Mann in einer schrecklichen Situation.
In einer anderen Nacht, als ich von meinem Arbeitsplatz in das Lager zurückkam, fragten mich meine Freunde, ob ich wisse, was geschehen war. „Nein“, sagte ich, „was ist los?“ An diesem Nachmittag machten die Deutschen eine weitere Selektion, um Leute ins Krematorium zu schicken. So viele wie möglich wurden sofort nackt und jeder nur mit einer Decke in einem Wagen zusammengepfercht, der von Pferden gezogen wurde. Mein Vater war einer von ihnen. Er war als einer der Unproduktiven herausgesucht worden.
Aber der Blockälteste, der ihn mochte, hatte davon gehört. Er ging und zog meinen Vater aus dem Wagen heraus, trug ihn auf seinem Rücken zu unserer Hütte und behielt ihn dort. Das war, was ich hörte, als ich an diesem Abend zurückkam. Mein Vater war gerettet worden.
Dann war es Dezember 1944. Das Wetter war viel kälter geworden und die Arbeit forderte immer mehr ihren Tribut. Viele starben. Andere wurden selektiert. Wieder andere warteten, dass sie selektiert würden. Unser Zahl dünnte sich aus. Es war zu diesem Zeitpunkt, als die Deutschen eine große Gruppe ungarische Juden von tief in Ungarn brachten. Sie waren junge Leute in ausgezeichneter Verfassung.
Dieser Ersatzleute, wie wir sie nannten, waren gesund und als sie ankamen, gut gekleidet. Sie waren die jüngsten Männer in Ungarn, die geeignet waren ins Arbeitsbataillon gesteckt zu werden, wahrscheinlich 18, 19 oder 20 Jahre alt. Sie kamen aus verschiedenen Gegenden des Landes. Die meisten von ihnen konnte man beschreiben als angepasste Juden. Sie hatte früher keinen Kontakt mit osteuropäischen Juden, unserem Judentyp. Sie waren intellektueller und betrachteten sich selbst als patriotische Ungarn, nicht als Juden. Ihnen würde nichts Schlechtes passieren, dachten sie, denn sie waren offensichtlich verschieden von den anderen Juden. Sie fühlten sich andersgläubig.
Bis sie nicht die Grenze nach Deutschland überquert hatten, konnten sie ehrlich nicht glauben, dass sie wie die anderen Juden behandelt würden. Sie dachten, sie würden anders behandelt, denn ihre Väter, Großväter und Urgroßväter hatten in der österreichisch-ungarischen Armee gedient und waren unterschiedlich behandelt worden. Diese jungen Männer schauten auch anders aus. Sie hatten keine Bärte. Sie hielten sich nicht an jüdische Bräuche. Sie verhielten sich nicht so wie chassidische Juden. Sie benahmen sich wie ungarische Nichtjuden.
Aber als sie die Grenze überschritten, kamen sie mit der Realität in Berührung, als sie zum ersten Mal unter die Kontrolle junger deutscher Soldaten kamen, die bestrebt waren, auf alle zu schlagen. Diese Soldaten gehörten zu keiner Truppe. Sie hatten keine Disziplin. Plötzlich wurden die ungarischen Juden von ihnen geschlagen. Das war ihre erste Erfahrung, ein grobes Erwachen. „Was ist da los?“ fragten sie. „Was passiert da?“ Sie waren traumatisiert. Sie konnten es nicht glauben. Sie konnten es einfach nicht glauben.
Als sie noch in Ungarn waren, waren sie von den ungarischen Wachen behandelt worden, wie wenn sie etwas Besonderes wären, obwohl man sie aus ihrem normalen Alltagsleben herausgeholt hatte. Sie waren nicht als Arbeitsbataillone an die russische Front geschickt worden. Sie hatten schöne Kleidung, Mäntel mit Pelzkragen, hübsche Mützen und moderne Schuhe. Dann wurden sie nach Dachau und in die Mühldorfer Lager gebracht. Es wurde ihnen gesagt, dass sie desinfiziert werden mussten. Das bedeute Schläge. Das bedeutete, dass ihnen die Köpfe rasiert wurden. Das bedeutet den Streifen in der Mitte ihres Schädels. Und das bedeutete, dass sie ihre feine Kleidung abgeben mussten, Kleidung, die sie nie wieder sehen würden, weil sie von den Kapos „organisiert“ wurde.
Diese ungarischen Juden hatten keine Ahnung von den Abläufen in den Lagern, wo jeder alles stahl, besonders wenn es in irgendeiner Hinsicht interessant war. Ich erinnere mich als sie zum ersten Mal kamen. Sie sagten: „Wir sind stark. Wir werden euch Jungs zeigen, wie man arbeitet und ihr werdet wie Muselmänner aussehen.“ Wir schauten sie an, als ob wir sagen wollten: „Wie wenig ihr wisst!“
Sie akzeptierten einfach die Tatsache nicht, dass sie Häftlinge waren wie alle anderen. Aber das dauerte nicht lange. Es dauerte keine vier Wochen, bis sie starben wie die Fliegen. Sie hatten sich wirklich freiwillig auf die Baustelle gemeldet, um die Säcke Zement zu tragen. Da sie noch stark waren, als sie ankamen, waren sie in der Lage, ein paar Tage zu überleben. Aber das war auch alles. Sie hatten nie körperliche Arbeit geleistet. Die meisten von ihnen waren Intellektuelle, die von den großen Städten kamen, nicht von einer rauen Umgebung. Sie wussten nicht, was schwere körperliche Arbeit bedeutet. Viele hatten wahrscheinlich Diener zuhause. Sie waren oft die Söhne von Vätern, die keine körperliche Arbeit leisteten und das war für sie absolut ungewohnt.
Eines der ersten Dinge, die die jungen ungarischen Juden taten, als sie ins Lager gebracht wurden, war nach ihren Eltern zu suchen. Sie wussten nicht, was mit ihnen geschehen war. Sie wussten nur, dass ihre Väter zu Arbeitsbataillonen geschickt worden waren und dass sie nach Auschwitz gebracht worden waren.
Die jungen Leute suchten auch nach Leuten aus ihren Heimatstädten. Sie sprachen nur ungarisch und vielleicht ein bisschen deutsch. Im Unterschied zu uns sprachen sie kein jiddisch. Außerdem waren sie isoliert, weil sie im großen und ganzen fein verstreut über die Hütten waren. Ein paar waren hier und da zusammen und aus derselben Stadt, aber nicht viele. Sie waren keine geschlossene Gruppe wie wir. Es waren Hunderte von ihnen in unserem Lager. Auf der Baustelle versuchten sie sofort die 50-Kilo-Säcke Zement zu heben. Sie dachten, sie könnten den Bewachern zeigen, wie stark sie waren und dass sie folglich bevorzugt würden. Diese Einstellung hielt nicht lange an. Sie konnten diese Säcke nicht tragen. Niemand konnte das.
Im Waldlager gab es ständig Ersatz für verstorbene Häftlingen. Die ersten, die kamen waren die Ungarn. Dann gab es Ersatz von anderen Lagern. Es gab eine Zuweisung von französischen Juden, die dazu gebracht wurden und eine Gruppe belgischer Juden. Einer von den französischen Juden war ein Mann namens Marcel. Er war ein kleiner Bursche, ein netter Junge. Ich konnte sein Alter nicht schätzen, denn an diesem Ort schauten die Jungen alt aus und die Alten schauten jung aus.
Als der Krieg vorüber war, am Befreiungstag, sah ich Marcel plötzlich einen Fleck von seiner Hose abreißen, wo er verschiedene Papiere versteckt hatte und loslaufen, um sie einem amerikanischen Offizier zu geben. Marcel wurde der zivile Chef der französischen Besatzungs-Streitkräfte in unserer Gegend. Unbekannt für uns war er ein hoher Offizier im französischen Untergrund. Ich traf ihn unter verschiedenen Umständen immer wieder.
Es gab eine Geschichte über einen jungen Ungarn, der einen anderen Ungarn in dem Lager treffen wollte, der ein Muselmann an seinem ganzen Körper war. Der junge Mann wollte nicht näher hingehen, wenn er ihn traf. Er fürchtete die Ansteckung. Der Mann, der von Läusen bedeckt war, sagte, dass er Arzt sei. Zu manchen Zeiten hatte er Helfer. „Nun, schau mich an“. sagte er. Anstatt dem ungarischen Besucher zu sagen, was er wissen wollte, nämlich was mit seiner Familie geschehen war – redete der Arzt nur über sich selbst. Er war bereit zu sterben und kurz danach tat er das auch.
Zwei Tage nach dem Besuch, war der junge Ungar selbst mit Läusen bedeckt. Dasselbe passierte allen ungarischen Insassen. Sie hatten Läuse wie alle anderen auch. Es dauerte seine Zeit, bis sich die Läuse ausbreiteten, aber nicht sehr lang. Ich meine, sie vermehrten sich wie Läuse. Zu jener Zeit, muss ich leider sagen, verbrauchten die Läuse die meiste Zeit von unserem Leben.
Alle paar Wochen, wurden wir desinfiziert; das tötete die Läuse für ein oder zwei Tage, aber dann kamen sie zurück. Das geschah immer wieder bis zu unserer Befreiung. Es gab Millionen Läuse und wir litten immer an Jucken. Sie saugten beständig unser Blut. Sie waren immer in den Falten unserer Kleidung. Die einzige Zeit, wo ihre Zahl etwa reduziert wurde, war der Februar, als uns Hemden und Unterhosen aus gewelltem Papier geben wurden, um unsere Kleidung zu ersetzen. Die Läuse konnten sich nicht daran hängen.
Davor rieben wir uns die ganze Zeit selbst, Tag und Nacht und zogen ständig an uns. Es juckte dich immer und du hattest immer Bissstellen. Du gingst damit immer zur Arbeit. In der Nacht, wenn wir versuchten zu schlafen, war es dasselbe. Die Läuse waren immer bei uns, über unseren ganzen Körper verteilt und die ganze Zeit. Mit unseren Händen versuchten wir große Ansammlungen von ihnen herunterzureißen, aber was konnten wir sonst tun? Was die Sache noch schlimmer machte: Wir hatten schon lange keine Socken mehr, sondern nur Lumpen, in die wir die Füße wickelten. So bekamen wir alle möglichen Fußleiden.
Es lag Schnee und wir hatten offene Stellen und Läuse saßen auf den Wunden und das ohne Unterlass. Das schlimmste, was wir als Häftlinge aushalten mussten, war der endlose Hunger und die immerwährend vorhandenen Läuse.
Innerhalb einiger Wochen waren die ungarischen Häftlinge nicht mehr zu unterscheiden von uns anderen. Einige zog es zu unserer Zehnergruppe. Sie merkten, dass es da Häftlingsgruppen gab, die sich gegenseitig halfen. Wir waren eine dieser Gruppen. Wir hielten immer unsere zehn Leute zusammen.
Da mein Vater ein weiser Mann war, wandten sich die anderen Insassen hilfesuchend an ihn, um mit ihm zu sprechen. Sie wussten, dass er nie die Hoffnung verlor. Von diesen neuen Insassen erfuhren wir, dass die Russen weiterhin die Deutschen zurückdrängten. An unseren Arbeitsstellen erzählten uns Leute aus unserem Lager (Polen, Ukrainer, Italiener und russische Häftlinge), dass die Amerikaner und Briten auch vorwärts kamen. Flugzeuge starteten und flogen über uns hinweg – das muss im Februar gewesen sein. Wir hörten zum ersten Mal im frühen Juni 44, dass es eine Landung in Frankreich gab und dass die Amerikaner sich in Richtung zu uns vorwärtskämpften.
Zu dieser Zeit hatten wir schon beschlossen, dass wir nicht zur Arbeit gehen würden, egal was passierte. Alles was wir tun würden, war zusammenbleiben. Versuchen zu überleben. Wir würden nur Dinge tun, die wir tun mussten, aber wir würden nicht zur Arbeit gehen. Das bedeutete, dass wir uns verstecken mussten.
Es gab einen weiteren Unfall auf einer der Baustellen. Ich sah einen Rucksack auf dem Boden, der einem der Wachen gehörte. Er könnte Ukrainer gewesen sein. Ich konnte sehen, dass etwas zu essen drin war – etwas Brot und eine Gurke. So „organisierte“ ich das. Die Wache wollte dann zu Mittag essen, aber es war nichts da. Wir hatten es in kürzester Zeit aufgegessen. Wir hatten es unter uns aufgeteilt. Der Ukrainer wütete, dass seine Gurke verschwunden war und tötete fast Leute, als er danach suchte. Wir haben nie eingestanden, was geschehen war.
Bei einer anderen Gelegenheit wurden ein Freund und ich zu einer Arbeitsstelle geschickt, wo wir Eisenstäbe von einem Platz zum anderen tragen mussten. Die Temperatur war unter dem Gefrierpunkt und wir hatten keine Handschuhe. Meine Hände blieben am Eisen kleben und die Haut riss auf. In der Zwischenzeit sah mein Freund, dass eine Wache ihre Uhr fallen ließ. Mein Freund hob sie auf. Später tauschten wir sie gegen Suppe und Brot ein. Diese Uhr hielt uns monatelang am Leben.
Man tauschte etwas wie die Uhr mit den Kapos und die Blockältesten gegen Zigaretten. Jede Zigarette konnte gegen ein Stück Brot getauscht werden oder etwas Margarine, was ein Grundnahrungsmittel war. Für diese Uhr konnten wir Extra-Lebensmittel für eine lange Zeit bekommen. Wir teilten sie.
Zu dieser Zeit wussten wir, dass das Ende des Krieges näher kam und unsere größte Sorge war das Befinden meines Vaters. Er hatte in einem Bein Venenentzündung bekommen und konnte nicht lange gehen. Mein Vater war mit einem älteren Mann im Krankenbereich, der nur ungarisch sprach, das mein Vater auch konnte, zusätzlich zu rumänisch , jiddisch und deutsch. Der alte Mann und mein Vater hatten viele theologische Diskussionen. „Gott ist dies“, sagten sie, „und Gott ist das. Mein Vater antwortete: „Gott macht das, was er will!“ Man versteht Gottes Wege nicht und man wird sie nie verstehen.“ Aber der Ungar war total unreligiös.
Viele Male saß ich dabei und hörte diesen Diskussionen zu. Der Ungar sagte, dass er nach dem Krieg sehr religiös werden würde, aber da war eine Sache, die ihm mein Vater tun lassen sollte. Er sollte die Erlaubnis haben, Schweinefleisch zu essen. Er würde alle anderen Lehren befolgen, aber er musste Schweinefleisch essen. Ich weiß nicht, ob ihm mein Vater jemals eine Antwort gab. Der alte Ungar überlebte nicht.
Gegen Ende Februar hörten wir zum ersten Mal Flugzeuge. Wir konnten sie über uns fliegen sehen. Sie kamen mit zunehmender Häufigkeit. Dann konnten wir eines Tages Bomben explodieren hören. Amerikanische B17, hatten das Eisenbahngebiet von Mühldorf angegriffen, der einer der Knotenpunkte des südlichen Deutschland war. Alle Züge, die von Süden nach Norden und von Osten nach Westen fuhren, kamen durch dieses spezielle Gebiet, Züge von Ungarn, Italien, Berlin und Frankreich. Es waren sehr viele Züge, die an diesem Kreuzungspunkt zusammenkamen.
Die Luftangriffe wurden zwei oder drei Tage fortgesetzt, ein Angriff nach dem anderen. Um 11 Uhr jeden Morgen, während wir auf der Baustelle waren, kamen die Flugzeuge und ließen eine Bombe fallen. Die Arbeitsstellen waren in der Nähe der Orte, wo die Flugzeuge viele ihrer Bomben fallen ließen. Wir waren besorgt und die Deutschen waren besorgt. Zuerst gingen wir zur Baustelle und begannen mit der Arbeit, aber als die Bomben zu fallen begannen, hörten wir auf. Start und stopp.
Nachdem die Zugstrecken in dieser Gegend bombardiert worden waren, konnten keine Züge mehr fahren. Die Deutschen wollten verzweifelt, dass die Strecken repariert würden. Ich hatte Glück, dass ich dieser Arbeit zugeteilt wurde. An einem Tag reparierten wir die Schienen und am nächsten Tag kamen die Bomber wieder. So reparierten wir weiterhin, was die Bomber zerstörten. Das war unsere Beschäftigung.
Schließlich konnten einige Züge durchfahren. Es waren Züge mit Eisenbahnwaggons, die die Deutschen überall in Europa erbeutet hatten und die sie nun heimbrachten. Da waren zum Beispiel hunderte, wenn nicht Tausende von Zugladungen Tabak aus Ungarn dabei. Aber die meisten dieser Züge, die gestohlene Beute enthielten, kamen aus Italien. Sie enthielten Waggonladungen voller Zucker, Reis und Getreide. Wegen der Zerstörung, verursacht durch die zunehmenden Bombardierungen, kamen die meisten der Güterzüge nicht weiter als bis Mühldorf. So wurden wir angewiesen, die Güterwagen zu entladen und den Inhalt zu Lastwagen zu tragen, um sie in Lagerhäuser zu bringen. Wir öffneten Güterwägen mit Tabak , bildeten eine Kette mit hundert Häftlingen und bewegten den Tabak zu den Lastwagen in der Nähe.
Unsere nächste Aufgabe war, Säcke mit Getreide zu transportieren. Vier von uns packten jeden Sack an einem Eck – ich denke sie wogen etwa 50 Kilo – und trugen sie zu einem anderen Lastwagen. Dies machten wir immer wieder. Wir mussten auch Lastwägen abladen und ihre Ladung zu einem Lagerhaus zu bringen, immer unter Bewachung. Dazu gehörten SA- Sicherheitswachen, SS, Wachen der Wehrmacht und andere, alle Arten von Wachen der verschiedenen Zweige der deutschen Armee.
Jeder von uns hatte einen Löffel mit einem zugespitzten Griff, so dass man ihn wie ein Messer benutzen konnte. Es würde als Waffe benutzt werden, um uns zu verteidigen, wenn es notwendig war. Manchmal wurde es benutzt, um jemanden umzubringen. An jenem ersten Tag des Ver- und Abladens, benutzen wir es, um einen Sack Zucker aufzuschneiden und den Inhalt in unsere Taschen zu stopfen. Wir nahmen auch etwas Tabak mit. Als wir ins Lager zurückgingen, waren wir reich. Wir hatten etwas zum Tauschen – Zucker und Tabak. Für ein Blatt Tabak würden manche Häftlinge ihr Leben hergeben. Raucher sehnten sich danach. Sie würden ihre Lebensmittelzuweisung für eine Zigarette hergeben.
An diesem ersten Tag des Zugentladens hatte ich eine Menge Tabak in meinen Händen, aber es gab andere Häftlinge, die leer ausgingen. Einer von den ungarischen Häftlingen, ein älterer Bursche in den Zwanzigern oder Dreißigern, sah ein Stück Tabak auf dem Boden, hob es auf und steckte es in seine Tasche. Ohne sein Wissen waren drei Offizier hinter ihm. Ich erinnere mich dran, wie wenn es gestern gewesen wäre. Die Deutschen sagten, dass der Häftling plünderte und es waren Schilder überall, dass man Plündern mit dem Leben bezahlte. Deshalb befahl ein älterer Offizier (ein Oberst) einem Leutnant, ihn zu erschießen. Sie zogen den Häftling aus der Reihe und sagten ihm, dass er gesehen worden wäre, dass er Tabak aufgehoben hätte und dass das nicht erlaubt sei. Der Häftling hatte den Ernst seines Handelns nicht erkannt.
Der Oberst wiederholte den Befehl an seinen Leutnant, aber der Leutnant, der ein Gewehr trug, zögerte.
„Bitte, erschießt mich nicht!“ schrie der Häftling. „Ich habe eine Frau und zwei Kinder.“ Er wusste nicht, dass seine Frau und die Kinder schon Monate zuvor getötet worden waren. Dem Leutnant wurde noch dreimal gesagt, dass er ihn erschießen solle. Schließlich nahm er sein Gewehr und erschoss ihn auf der Stelle.
Aber der Häftling starb nicht sofort. Deshalb nahm der Oberst seine Faustfeuerwaffe und schoss ihn in den Kopf. Währenddessen wir das beobachteten, hatten wir unsere Taschen voller Tabak. Wir sahen zu, dass wir sie so schnell wie möglich leerten, bevor wir an diesem Tag zurückgingen zum Lager. Aber später nahmen wir wieder etwas von dem Tabak. Dies war die allerfeinste Arbeitsstelle.
Einmal trugen vier von uns einen Sack Zucker. Wir schauten uns um und sahen, dass uns niemand beobachtete. So schnitt ich mitten in den Sack und wir fingen an Zucker in unsere Taschen zu verstauen. Ich wurde nicht gewahr, dass ein Posten hinter uns stand. Er hatte mit mir beim Zerschneiden des Sacks zugesehen. Gerade in dem Moment ging ein Alarm los; es gab einen neuerlichen Luftangriff. Wir ließen alles fallen und fingen an zu laufen. Nicht weit entfernt war ein Fluss und wir liefen auf sein Ufer zu.
Die Wache schrie: „Wo ist der Kerl, der diesen Sack zerschnitten hat, wo ist der Junge mit der Brille?“ Er schrie, während der Luftangriff weiterging. „Wenn er nicht herauskommt, dann erschieße ich euch alle!“
Einer der ungarischen Häftlinge sagten zu einem anderen Insassen, dass er mich sah, als ich die Brille abgenommen habe und dass er der Wache erzähle, dass ich es wäre, wenn ich herauskäme. Ein anderer Insasse hielt ihm den Mund zu, und warnte ihn, dass er ihn umbringe, wenn er seinen Mund nicht halte. So gab er Ruhe. Nach dem Luftangriff, war die Wache nicht in der Lage, mich zu finden.
Später fand ich einen anderen Weg, meine Arbeit zu erledigen. Ich konnte mir ein neues paar Hosen verschaffen im Austausch gegen einen Artikel, den ich damals hatte. So zog ich ein paar über das andere an und ich schnürte die inneren Hosen mit einem Stück Seil unten zusammen. Dann füllte ich die Hosenbeine mit Zucker. Wenn ich von der Gleisbaustelle zum Lager zurücklief, konnte ich ein paar Kilo Zucker in meinen Hosen versteckt tragen und ich brachte viel davon zu meinem Vater. Er war noch immer im Lagerkrankenrevier und konnte das „lagern“, was ich ihm mitbrachte. Meine Brüder und Freunde konnten den Zucker auch gebrauchen, um etwas mehr essen auszuhandeln.
Eines Tages kam ich, beladen mit Zucker, zum Lager zurück, als ich am Zaun aufgehalten wurde. Es gab eine Durchsuchung, um herauszufinden, wer etwas von außen hereinschmuggelte und da stand ich nun, beladen mit Zucker. Es war nach der Dämmerung, die Scheinwerfer waren an und ich dachte „Was zur Hölle soll ich jetzt tun?“ Sie untersuchten und untersuchten und ich ging immer mehr zurück, und schließlich fand ich einen Platz, den die Scheinwerfer nicht erreichten. Ich öffnete meine Hosenbeine und ließ den ganzen Zucker heraus. Dann ging ich ins Lager. Das war knapp. Ich hatte noch mehr solche knappen Situationen.
Als die Luftangriffe im April fortgesetzt wurden, wurden die Bedingungen für die Häftlinge besser. Es gab mehr zu essen (wir konnten mehr organisieren) und unsere Arbeitsbelastung verminderte sich beträchtlich. Unsere Arbeit im Bahnhofsgebiet hielt zwei oder drei Wochen an. Schließlich waren ein paar Gleise repariert, so dass die Züge südwärts fahren konnten. Aber hunderte von Güterwagen daneben wurden nie bewegt. Zu dieser Zeit waren sie alle leer.
Die Bombardierungen wurden häufiger und heftiger. Die Regel war, dass wir auf die Arbeitsstelle marschierten und um 11 Uhr kamen die Bombenangriffe. Zwanzig Minuten oder eine Viertelstunde vor 11 Uhr, fingen die Deutschen zu laufen an. Sie fürchteten sich mehr vor den Angriffen als wir. Wir wussten, dass die Bomber unterwegs waren, wenn die Deutschen zu laufen anfingen. Um 11 Uhr waren die Flugzeuge wie ein Uhrwerk immer wieder da – buchstäblich jeden Tag.
Das ging einige Wochen so und schließlich gingen wir gar nicht mehr aus dem Lager heraus. Es war zu gefährlich. Außerdem befürchteten die Deutschen, dass wir die Luftangriffe zur Fluchtversuchen benutzen würden. So hörten wir auf hinauszugehen. Im April arbeiteten wir auch nicht mehr. Wir waren dort besser aufgehoben, denn wir konnten Vorräte sammeln. Wir tauschten die Menge Zucker, die wir mitgenommen hatten. Es gab dort, wo wir arbeiteten, auch Ladungen mit Weizen. Das war hilfreich, als das Passahfest spät ihm April kam.
An Passah aß man nicht Brot, sondern Matzos (ungesäuertes Brot). Aber natürlich hatten wir keine Matzos. Um Matzos zu machen, brauchten wir Mehl. So kam wieder mein zweites Paar Hosen in gebrauch. Dieses Mal füllte ich sie mit Weizen, dass ich jeden Abend von meinem Arbeitsplatz an der Verladerampe mitbrachte. Ich gab sie meinem Vater im Lagerkrankenbau. Er konnte einen Stein beschaffen, mit dem er das Getreide zu Mehl zermahlen konnte. Dann gab er das Mehl einem Häftling mit Namen Herman, um die Matzos zu backen. Sie waren grobkörnig, aber sie waren gesund. Auf irgendeine Art konnte sie Herman in der Küche backen. Niemand sah, was geschah.
Einige Pflichten unseres Freundes Einhorn, war ein Auge auf die Küche zu haben, um abzusichern, dass nichts gestohlen wurde. Er war einer von denen, die sich darum kümmerten, dass die Matzosscheiben gebacken wurden. Das Ergebnis war, das am Passahabend jeder der ein Stück Matzos haben wollte, es auch bekommen konnte.
Eines nachts im April bereitete ich mich zum Schlafengehen vor und sprach mit einem aus meiner Gruppe, einer von den zehn aus Viseu. Ein anderer Mann in unserer Hütte erzählte mir, dass er es nicht überstehen würde. „Es hat keinen Sinn, es durchzustehen“, sagte er. Er stand nicht auf am nächsten Morgen. Er starb dort. Sein Bruder Chaim Herman, der mit uns in dieser Hütte war, lebt nun in New York. Er und sein Schwager sind die größten koscheren Fleischlieferanten auf der Welt. Immer wenn ich ihn treffe, redet er darüber, was im Waldlager geschah und dass sein Bruder neben mir in der Hütte starb.
Während dieser Tage, als die Bomber kamen, sprachen mein Vater, mein Bruder, Freunde und ich darüber, befreit zu werden und was wir nach der Befreiung tun würden. Wir fühlten uns sehr gut, weil wir überzeugt waren, dass wir es schaffen würden. Wir wussten nur nicht, wie bald. Wir waren sicher, dass die Befreiung nahe war. Wir hatten keine Informationen als das, was wir sahen, aber wir sahen die Befürchtungen der Deutschen. Zu dieser Zeit hatten wir wenig Kontakt mit den Wachen, aber wenn, konnten wir die Angst in ihren Augen sehen.
Wir gingen nicht mehr aus dem Lager. Wir hüpften und tanzten, wenn die Bomber jeden Tag um 11 Uhr kamen. Die Flugzeuge flogen sehr tief. Wir wussten nicht, dass die Sterne auf den Flügeln bedeuteten, dass es Amerikaner waren, aber Marcel wusste es und erzählte es uns. Es waren nur die Amerikaner mit ihren riesigen Flugzeugen. Wir hatten nie solche Flugzeuge gesehen. Tatsächlich hatte ich nie ein Flugzeug gesehen, bis zu dem ersten Luftangriff.
Wir waren freudig erregt. Wir versammelten uns, um zu planen, was geschehen wird.
Es gab einen Häftling im Lager, der Arzt war. Er war ein Onkel von einem der Burschen, der aus unserer Stadt war. Er bewunderte auch meinen Vater. Es gab keine Medizin, die der Rede wert war, aber er half, auf meinen Vater aufzupassen. Wir schauten darauf, dass genügend Essen für ihn da war.
Alle von uns wussten, dass der Krieg seinem Ende zuging. Die Deutschen begannen das Lager zu schließen und wir wurden in Marsch gesetzt. Der Rest von uns war in der Lage zu marschieren, aber mein Vater hatte keine Kraft dafür. Wir wollten ihn nicht zurücklassen. „Du weißt, was passieren wird“, sagte einer, „sie werden ihn töten. Wir mussten, dass wir ihn mitschleppen mussten, aber eines seiner Beine war noch sehr schwach. Wir nahmen ihn mit, genauso wie den Klausenburger Rabbi, der viele Monate im Krankenbau gewesen war.
Es gab sehr viel Militär in diesem Gebiet von Deutschland, in den letzten Tagen des Krieges. Der größte Teil der deutschen Armee hatte sich nach Bayern zurückgezogen.
Uns wurde befohlen zum Bahnhof von Ampfing zu marschieren, westlich des Lagers. Es war ein langer Marsch. Es war grauenhaft, denn wir hatten keine Kraft mehr, obwohl wir aufgeregt waren. Wir wechselten uns ab, zwei in jeder Phase, um meinen Vater einen Teil des Weges zu tragen und dasselbe taten wir mit dem Rabbi. Sie gingen ein Stück, dann trugen wir sie und dann gingen sie wieder ein Stück. Wir sicherten uns ab, dass die Wachen, wenn sie in der Nähe waren, meinen Vater marschieren sahen. Wenn sie dachten, dass er nicht mehr selber gehen konnte, würden sie ihn erschießen.
Ich weiß nicht, wie lange wir brauchten – es schien ewig zu dauern. Als wir in Ampfing ankamen, wurden wir in einen Viehwaggon verladen. Wir wussten nicht, wo wir hingeschickt wurden. 80 bis 90 Häftlinge wurden in jeden Waggon gesteckt. Wir konnten sehen, dass ein Waggon mit Vorräten beladen wurde, unter anderem mit Käse und Brot. Dann fuhr der Zug los. Wir bewegten uns westwärts und dann südwärts. Der Krieg war beinahe vorbei, aber unsere Inhaftierung setzte sich fort und mehr denn je war unser Leben in Gefahr.
Das Dritte Reich brach in Flammen zusammen. An allen Fronten war die deutsche Armee auf dem Rückzug. Am 1.April 1945 vervollständigten die neunte und die erste Armee der Vereinigten Staaten die Einkreisung des Ruhrgebiets, was dazu führte, dass sich 325000 Deutsche ergaben. Am 11. April hatte sich die 9. Armee den Weg freigekämpft bis in das Zentrum Deutschlands und erreichte die Elbe. Am 27. April kämpften russische Divisionen grimmig in den Straßen von Berlin und eine halbe Million Soldaten der sowjetischen Truppen kreisten die Stadt ein, bereit ihre Schlussattacke anzufangen.
Überall mussten die Deutschen ihrer Niederlage ins Auge sehen. Nichtsdestotrotz waren sie entschlossen, die letzten Stunden des Krieges dazu zu benutzen, Hitlers Endlösung zu vervollständigen. Am 29. April um 16 Uhr, unterschrieb Hitler in einer letzten Amtshandlung seinen letzten Willen und sein Testament, wo er seinen Glauben in die Rassengesetze und seinen abgrundtiefen Hass auf das Judentums wiederholte.
Das Krematorium von Dachau kam nicht mehr zurecht mit all den Körpern von Häftlingen, die dort gestorben waren. Als die Amerikaner schließlich am 29. April ankamen, fanden sie Tausende von toten Körpern. Der Plan der Deutschen war, dass sie alle übriggebliebenen Insassen von den Außenlagern nehmen und sie an den Fuß der Tiroler Alpen transportieren, wo sie mit Maschinengewehren erschossen werden sollten.
Zwischen dem 14. April und dem 27. April begannen die Deutschen mit dem Todesmarsch von 20000 Häftlingen aus dem Komplex der Dachauer Lager. Einige dieser Häftlinge wurden zu Fuß, andere mit dem Viehwaggon Richtung Alpen bewegt. Mein Vater, Buroch und ich waren in einem Zug. Wir wussten es zuerst nicht, aber wir merkten bald, dass wir weggebracht wurden, um exekutiert zu werden. Der Historiker Martin Gilbert schrieb über den Transport der Dachauer Häftlinge:
„ Sie fuhren mit dem Zug, während die Zugstrecken und Züge fortwährend von den Alliierten bombardiert wurden; Sie wurden eingesperrt in Zugwaggons zurückgelassen, wenn die Wachen flohen. ... Ganze Tage vergingen, ohne eine Gelegenheit zu essen und zu trinken. Terror und Gefahr drohte von allen Seiten, bis schließlich zuletzt die Deutschen ihren Plan in dem Glauben durchzogen, dass sie beim Exekutieren weiter machen könnten und ihre Opfer zu beherrschen, sogar als ihr Herrschaftsgebiet ihnen aus den Händen gerissen wurde. Unfähig ihre Opfer gehen zu lassen, richteten sie ihre Rache auf ihre Häftlinge, weil diese schutzloser waren, als sie selbst geworden waren. Aber am Ende blieb nichts übrig, und sie wurden reduziert auf verzweifelt Herumhüpfende, die nach einem Versteck suchten wie Ratten in einer brennenden Farm.
Als das Reich zusammenfiel, waren die Zugstrecken in der Gegend rund um München bis an die Grenze mit Zügen gefüllt, welche die gestohlene Beute aus Italien, Ungarn, Österreich und dem restlichen Europa brachten, wie andere Züge Hunderttausende von sich zurückziehenden Deutschen, Soldaten und Zivilisten transportierten. Sie flohen alle vor den alliierten Armeen, besonders vor den Russen. Die Zugstrecken konnte so viele Züge nicht bewältigen. So verbrachte der Zug, in dem wir eingesperrt waren, mehrere Tage damit, von einem Abstellgleis zum anderen zu fahren, vor und zurück, um andere Züge durchzulassen. In der Freitagnacht, dem 27. April, hielt unser Zug plötzlich auf einem Abstellgleis außerhalb von München. Wir schauten durch die Holzlatten auf den Seiten der Viehwaggons und merkten, dass etwas anders war. Dann sahen wir die Deutschen, wie sie die Abzeichen von ihren Uniformen rissen. Plötzlich wurden die Türen der Waggons aufgemacht und die Wachen sagten uns, dass wir frei wären und dass der Krieg vorüber wäre. Dann verschwanden sie.
Wir sprangen aus den Waggons und liefen auf eine Stadt zu, die wir in einiger Entfernung sehen konnten. „Das ist es“, schrie ich, „das Spiel ist vorbei.“
Es gab einen Waggon mit Lebensmittel und Vorräten und einige Blockälteste und Kapos waren darin gewesen. Aber nun waren sie an der Seite unserer Waggons, öffneten die Türen und wir sprangen heraus. Wir schienen endlich frei zu sein.
In geringer Entfernung war eine kleine Bahnstation des Ortes Poing. Wir waren etwa 30 Kilometer östlich von München. Wir liefen darauf zu, aber mein Vater sagte uns, wir sollten warten. „Rennen wir nicht“, sagte er, „das erste, was wir machen müssen, ist etwas zu essen zu bekommen. Gehen wir zurück!“
In der Zwischenzeit waren viele Häftlinge über ein leeres Feld gelaufen, das in der Nähe der Gleise war. Aber unser Vater sagte wieder: „Rennen wir nicht. Wenn der Krieg vorbei ist, dann ist er auch morgen noch vorbei. Wenn er nicht vorbei ist, dann wird es einen Gegenangriff geben. Hier ist es gefährlich. Das erste was wir machen müssen, ist etwas zu essen zu bekommen und dann sehen wir, was passiert.“ Die zehn unserer Gruppe gehorchten ihm.
In der Zwischenzeit liefen Tausende der Häftlinge des Zuges weg. Beinahe jeder lief, außer unseren zehn. Mein Vater sagte, wir sollten etwas Brot organisieren. So gingen wir zu dem Waggon, wo die Lebensmittel waren und er war offen. Ich zog meinen Mantel aus – ich hatte schon einen zivilen Mantel organisiert – und lud ihn voll mit Käse. Mein Bruder nahm die Brotlaibe. Andere griffen sich Kartoffel.
Wir brauchten Wasser, um die Kartoffeln zu kochen. Deshalb nahmen wir zwei Eimer und liefen zum Bahnhof, um sie zu füllen. Plötzlich hörten wir Schüsse. Sie kamen von etwa einem halben Kilometer entfernt. Die fliehenden Häftlinge waren gelaufen so weit sie konnten und hatten Deutsche getroffen. Nun konnten wir die Schießerei auch sehen.
Mein Vater rief uns zu, dass wir zu dem Waggon zurückkommen sollten, was wir auch machten. Bald begannen uns die Deutschen einzukreisen. Wir bewegten uns in Richtung des ersten freien Waggons. Ich trug noch meinen Mantel, der mit Käse gefüllt war. Andere trugen das Brot und die Kartoffel. Einer von uns hatte einen Eimer Wasser. Aber nun wurden wir getrennt. Jeder lief zum nächsten Waggon. Ich kletterte in einen und schloss die Tür. Nun waren nur ein paar von uns zusammen im selben Waggon – vielleicht fünf. Dasselbe war es im Waggon meines Vaters. Dann schlossen die Deutschen die Waggontüren.
Wir wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, welche dramatischen Entwicklungen in der bereits besiegten deutschen Armee stattgefunden hatten. In München hatte es eine Revolte in den Truppen gegeben, eine Gruppe wollte sich ergeben, andere nicht. Eine Abteilung der Wehrmacht versuchte mit einigem Erfolg die Stadt zu übernehmen. Die Wachen in unserem Zug gehörten zur Wehrmacht und sie hatten die Anweisung von ihren Kommandeuren erhalten, aufzugeben. Die Aufständischen übernahmen zwei Radiosender, eine Zeitung und Teile der Stadt für ein paar Tage, und nahmen andere Mitglieder der Wehrmacht als Gefangene.
Einige Einheiten der Luftwaffe, der deutschen Luftwaffe, von der es eine beträchtliche Zahl im Münchner Gebiet gab, bekämpften die Aufständischen. Es war Luftwaffenpersonal, das noch dem deutschen Oberkommando gehorchte, dass die Insassen, die aus den Zügen geflohen waren zurückgedrängt hatten. Viele Häftlinge wurden getötet. Der Rest wurde in die Züge zurückgescheucht. In der Zwischenzeit war die Revolte in München niedergeschlagen.
Wir blieben in dem Zug auf dem Abstellgleis etliche Stunden stehen, während ein anderes Team geholt wurde, um ihn zu fahren. Dann, als es Nacht wurde, begann der Zug sich zu bewegen. Wir fuhren wieder in Richtung Alpen. Trotz der Häftlingsverluste, war der Zug beinahe gefüllt. Zusätzlich zu unserem Zug waren viele andere Zügen auf diesen Gleisen, alle beladen mit Insassen der Lager. Sie wurden alle südlich in die Wälder vor den Alpen gebracht, wo sie ermordet werden sollten.
Am nächsten Tag, Samstag den 28. April, stießen zwei britische Kampfflieger herab und griffen unseren Zug an. Ungefähr 200 Häftlinge wurden getötet. Die Piloten müssen gedacht haben, dass es ein Wehrmachtszug sei. Während des Angriffs zogen einige von uns ihre Häftlingsjacken aus und legten sie auf einen Waggon. Als ich vom Waggon sprang, bekam ich einen Splitter in den Handrücken. Die Wunde war nicht groß. Es war nur ein wenig blutig.
Es gab Gelegenheiten, als deutsche Truppen und Versorgungszüge von den Alliierten angegriffen wurden. Die Deutschen hatten Häftlingsuniformen auf die Waggondächer platziert, um die Angreifer auszutricksen. Deshalb waren die alliierten Piloten misstrauisch. Aber dieses Mal funktionierte es für uns. Die britischen Flugzeuge hörten auf zu schießen und bogen ab.
Nachdem sie weg waren, schlossen die Deutschen alle Waggontüren und der Zug fuhr wieder an. Ein paar Stunden später kam unser Zug zu einem neuen Halt. Wir standen in einer Kurve und in der Ferne konnten wir Schüsse hören. Zwei Züge waren vor uns stehen geblieben und Häftlinge wurden aus den Waggons herausgeholt und mit Maschinengewehren erschossen. Wir würden die nächsten sein.
Wir warteten ab, bis wir an der Reihe waren. Alle Häftlinge aus den anderen Zügen wurden herausgeholt und erschossen. Aber es gab Verzögerungen. Truppenzüge kamen aus verschiedenen Richtungen. Unser Zug und der andere, der mehr Insassen beförderte, musste Platz machen für den wichtigeren Verkehr.
Dann fing es zu regnen an. Wir zogen eine der Latten von der Seitenwand eines Waggons und steckten unsere Schalen hinaus, um Wasser zu sammeln. Mit dem Stück Holz machten wir Feuer im Waggon und kochten die Kartoffel. Wir hatten etwas zu essen, aber wir brauchten noch mehr Wasser. Glücklicherweise konnten wir etwas einfangen, das durch Teile des Waggondachs tropfte.
Ich sorgte mich hauptsächlich um meinen Vater und meinen Bruder. Sie waren in einen anderen Waggon gestiegen und ich wusste nicht, ob sie noch am Leben waren. Es dauerte zwei Tage, bis ich herausfand, dass sie in Ordnung waren.
Während dieser Zeit blieb unser Zug auf dem Abstellgleis stehen. Wir waren nun in der Nähe der Stadt Seeshaupt, d.h. am Südende des Starnberger Sees, etwa 60 Kilometer südlich von Poing und 50 Kilometer südlich von München. Es war ein Erholungsgebiet, wo viele deutsche Führungskräfte ihre Sommerhäuser hatten.
Dann gab es kein Geschützfeuer in der Entfernung mehr. Als die Stunden vergingen und unser Zug stehenblieb, wurde uns klar, dass da keine Wachen mehr waren – keine Soldaten, keine Militärs, niemand. Irgendwie gelang es jemand, unsere Waggontüre zu öffnen. Es war früh am Sonntagmorgen, dem 29. April. Ein Freund von mir und ich trauten uns hinaus und schauten uns um. Die anderen Waggons waren noch zugesperrt. Dann gingen wir ein Stück an dem Zug entlang. Wir waren hungrig. Wir hatten keinen Käse mehr oder Wasser und wir waren durstig. Wir gingen weiter, aber sahen keine Wachen.
Ich rief nach meinem Vater und meinem Bruder. Sie antworteten aus dem nächsten Waggon und wir öffneten ihn schnell. Dann machten wir einen weiteren Waggon auf. Wir gingen von dem Zug weg und auf einen Ort zu und kamen zu einem Bauernhof, wo wir in den Hof gingen und einen Hasen fingen. Dann liefen wir zurück zum Zug, der nicht weit weg war und gaben den Hasen meinem Vater. „Hier“, sagte ich, „versuch einen Eintopf daraus zu machen. Ich bin bald zurück.“ Und ich verließ den Zug wieder. Diese Mal waren schon mehr Häftlinge aus den Waggons gekommen. Es war noch früh am Morgen, vor 5 Uhr. Nirgends waren Wachen. Alle waren abgehauen. Sie waren verschwunden.
Während mein Vater den Haseneintopf machte, gingen drei von uns zu dem Bauernhof diese Mal auf der Suche nach irgendwelchen fertigen Lebensmitteln. Wir gingen auf die Türe zu und plötzlich schaute ich auf. Oh mein Gott! Ein Mann war direkt vor uns. Er war groß, wahrscheinlich 1,80 Meter groß und trug einen Overall und einen Helm. Der Helm war das einzige Zeichen, nach dem ich vermuten konnte, dass er in der Armee war. Es gab keine Abzeichen, nichts, aber er hatte ein langes Gewehr. Das ist es, dachten wir. Wir waren aus dem Zug geflohen, nur um von einem deutschen Soldaten gefangen zu werden.
Dann deutete der Mann mit dem Finger auf seinen Mund und fragte uns: „Hungrig, hungrig, hungrig?“ Es war ein Amerikaner. Wir waren frei. Es war alles vorbei, wir hatten es geschafft, wir waren frei.
In diesem Moment kam die 7. Armee in unsere Richtung. Er war der erste Soldat, den wir sahen. Wir beantworteten seine Frage mit „Ja!“
Dann gingen wir zur Türe des Bauernhofes und klopften an. Ein Deutscher in seinem besten Anzug machte auf. Es war Sonntag. Der Deutsche sprach englisch und versuchte den Amerikaner an dem Gespräch zu beteiligen, aber der Amerikaner hatte kein Interesse daran. Der Deutsche, der – wie wir später erfuhren – der Bürgermeister von Seeshaupt war, versuchte dem Soldaten zu erzählen, wie froh er war, dass die Amerikaner gekommen waren, wie gut er zu Häftlingen gewesen war, und dass er tun wolle, was immer er wolle.
Der Soldat sagte nichts dazu. Er sagte, dass alle nur von dem Deutschen wolle, dass er uns etwas zu essen gäbe. Die Frau des Hauses, die daneben stand, sagte, dass sie kein Brot habe, aber sie könne eine Kartoffelsuppe machen, wenn das in Ordnung für uns wäre. Der Soldat fragte uns, ob uns das recht sei. Was für eine Frage! Dann fragte er die Frau, wie lange das dauern würde. Sie sagte, sie denke, etwa eine halbe Stunde. Wieder fragte uns der Soldat, ob uns das recht sei und wir sagten: „Ya“. Er sagte zu der Frau, sie solle mit der Suppe anfangen und dass er in einer halben Stunde zurück wäre. Er fügte hinzu, dass er sie töten würde, wenn wir dann keine Suppe bekämen.
Das Haus war schön möbliert. Der Soldat sagte uns, dass wir uns auf das Sofa setzen sollten. Wir zögerten. Wir waren schmutzig, trugen Lumpen und waren voller Läuse. Die Frau wollte logischerweise nicht, dass wir uns auf das Sofa setzen und verzog das Gesicht. Der Soldat legte seine Hand auf das Gewehr. Sie zog keine Grimasse mehr. Sie sah, dass es der Amerikaner ernst meinte.
Wir setzen uns hin und bekamen die Kartoffelsuppe. Wir waren keine Häftlinge mehr.
Die amerikanischen Truppen setzten ihren Vormarsch in das Gebiet um Seeshaupt fort und sie erlösten die verbliebenen Häftlinge von den Viehwaggons. Die Häftlinge wurde ins Zentrum der Stadt auf einen großen Platz gebracht. Dort errichteten die Amerikaner eine Feldküche.
Die drei von uns, die in dem Bauernhof gewesen waren, schauten nach den restlichen von unseren zehn mit meinem Vater und meinem Bruder, die wir beim Zug zurückgelassen hatten. Wir fanden sie in der Nähe der Küche, die von den Amerikanern aufgebaut worden war und umgeben von Essen. Das Bein meines Vaters machte ihm immer noch Schwierigkeiten und er bat uns, sehr langsam zu gehen, wenn er mit uns unterwegs war.
Unser Vater hatte uns gesagt, dass wir entweder von den Amerikanern oder den Russen befreit würden – wir wussten ja nicht, wer sich in unserer Richtung schneller bewegte. Er sagte, wenn die Russen unsere Befreier wären, würden sie sich nicht auf eine sehr menschliche Weise zeigen. In Wirklichkeit würden sie grausam sein. Sie würden uns zu essen geben, aber danach war nicht bekannt, was passieren würde.
Wenn unsere Befreier die Amerikaner wären, sagte er, dann würden die uns mit Essen überschwemmen und wir müssten vorsichtig sein, nicht zu viel zu essen. Das hatte er uns gesagt, bevor wir befreit worden waren.
Weil seine Brüder emigriert waren und viele ihrer Eindrücke per Post und bei Besuchen mitteilten, wusste mein Vater etwas über Amerika. Er wusste, dass seine Soldaten nett waren und uns Schokolade geben würden, obwohl Erwachsene in unserem Teil von Europa keine Schokolade aßen – das wurde als etwas für die Kinder betrachtet. Uns wurde gesagt, dass die Amerikaner Schokolade haben würden und dass sie uns mit einer Menge Essen versorgen würden.
Wir brauchten einige Zeit, um meinen Vater und meinen Bruder zu finden. Alle diese Viehwaggonzüge, die nach Süden gefahren waren, damit ihre Insassen ausgelöscht würden, mussten geleert werden. Es waren Abertausende von Häftlingen, die befreit wurden. Manche konnten aus eigener Kraft gehen. Einige mussten getragen werden. Mein Vater musste vom Zug weggetragen werden. Es war ein wildes Durcheinander. Wir waren zu erschöpft, um es zu begreifen. Alles was wir wollten, war essen, essen.
Wir dachten, wir hätten das große Los gezogen, weil wir etwas zu essen an dem Bauernhof bekommen hatten, aber als wir schließlich meinen Vater und meinen Bruder und den Rest der Gruppe trafen, sahen wir, dass sie bereits voll versorgt waren und sogar ein paar Zigaretten bekommen hatten, etwas, was wir nicht hatten. So gingen wir zu den GIs und baten auch um Zigaretten. Sie waren immer freigiebig. Sie warfen praktisch die Dinge zwischen uns, tatsächlich zu viel. Viele Leute bekamen Durchfall und wurden krank, weil sie sich überessen hatten.
Wir dachten, der Krieg sei zu Ende, aber er ging noch eine Woche weiter. Wir kümmerten uns nicht darum. Wir fingen an die Umgebung zu erkunden. Wir waren frei. Wir gingen hierhin und dorthin und dabei kamen wir zu einem Gefecht. In der Entfernung konnten wir deutsche Soldaten sehen und die amerikanischen in der Nähe, die aufeinander schossen. Die 7. Armee stieß immer noch in Gebiete vor, die von Deutschen kontrolliert wurden. Deshalb kehrten wir zu unserem Platz in der Stadt zurück.
Wir hatten keine Angst. Wir wussten nicht, was Furcht war. Alles was wir taten, war immer wieder essen. Das war alles, was wir an dem ersten Nachmittag taten. Am Abend sagte ich: „Hört zu Jungs. Heute Abend kümmere ich mich nicht darum, was passiert. Ich werde heute in einem Bett schlafen. Ich werde nicht wieder auf dem Boden schlafen.“
Wir gingen zu einem Haus in der Nähe klopften an der Tür und sagten der Frau, die öffnete, dass wir dort schlafen wollten. Sie wollte uns nicht hineinlassen.
Aber wir waren mutiger geworden. Wir gingen zu einem GI und sagten ihm, was wir wollten. Er sagte uns, dass wir mit ihm kommen sollten. Wir konnten kein Englisch, und die Amerikaner konnten in der Regel nur ein paar Worte deutsch. Deswegen kommunizierten wir mit Handzeichen.
Der GI klopfte an der Tür und kündigte der Frau an, dass wir dort schlafen wollten. „Nein“, sagte sie, „es ist mein Haus.“ „Nein“, sagte der GI, „Sie scheinen nicht zu verstehen. Sie kommen heraus und die gehen hinein.“
„Das können Sie nicht tun“, sagte die Frau.
„Sie kommen heraus“, sagte der GI, „und sie gehen hinein oder ich erschieße Sie.“
Die Frau ging weg und wir übernahmen das Haus. Wir gingen hinein und erkundeten alles. Sofort fanden wir Kleidung. Wir entledigten uns unserer Uniform, heraus aus unserer Unterwäsche und zogen uns neue Kleidung an. Aber wir duschten nicht und hatten immer noch Läuse.
An diesem Abend gingen wir in diesem Haus schlafen, das wir übernommen hatten. Um Mitternacht klopfte es an der Tür. „Hallo Jungs“, schrie ein Soldat, „ihr müsst da raus. Dieses Haus wird ein Hauptquartier der 7. Armee.“ Das Haus gehörte zu einem großen Gebäudeverbund. Das Haus in dem wir schliefen, war nur ein Teil davon.
„Aber macht euch keine Sorgen,“ sagte uns der GI, „es gibt ein weiteres Haus auf der Rückseite. Deshalb nahmen wir unsere Matratzen, legten sie im zweiten Haus auf den Boden und schliefen sehr bequem, wenn auch nicht in einem Bett. Wir bleiben dort ein paar Tage.
Schließlich mussten wir dieses Haus auch räumen, weil es Teil eines Verbunds war. Die GIs wiesen uns an, ein anderes Haus zu nehmen, was wir auch befolgten. Die Soldaten der 7. Armee waren die Truppe, die Dachau befreit hatte, und sie wussten, was mit den Häftlingen geschehen war. Deshalb ließen sie uns jedes Haus nehmen, das wir wollten.
Es dauerte nur ein Tage, wo wir gut versorgt waren, dass wir unsere Gesundheit und unsere Stärke zurückgewannen. Am Anfang gab es eine Menge Durchfall, aber nach ein paar Tagen waren wir in Ordnung.
In dieser Woche ließ uns die 7. Armee tun, was wir wollten. „Hey Jungs, wenn ihr jemand umbringen wollt, ok“, sagten sie zu uns. Wenn ihr ein Haus oder etwas anderes wollt, tötet dafür. Ihr braucht keine Fragen stellen. Ihr könnt alles tun, was ihr wollt. Seht nur zu, dass wir nichts davon erfahren.“
Deswegen wurde viele der 7. Armee ersetzt. Sie hatten die Gräueltaten gesehen und waren dadurch gefühlsmäßig sehr angegriffen. Das ist der Grund, dass sie sagten, wir dürften alles tun, was wir wollten.
Am 8. Mai 1945, während wir in Seeshaupt waren, war der Krieg in Europa zu Ende. Ich erinnere mich, dass es schneite.
Es gab viele russische Offiziere, die in dieser Gegend Kriegsgefangene gewesen waren. Wir trafen einige von ihnen; manche wurden von meinem Vater angezogen, der als weiser alter Mann galt. Es war ungewöhnlich eine ältere Person zu sehen, die Insasse gewesen war und überlebt hatte. Obwohl mein Vater im Frühjahr 1945 nur 46 Jahre alt war, wurde er als ältere Person betrachtet.
Die Russen waren nicht so vornehm, wie wir waren. Wir übten nie Rache wie die Russen und die Slaven. Alles was wir taten, drehte sich darum, Essen und Kleidung zu bekommen.
Einmal, als wir mit ihnen zusammen waren, sagten sie, dass wir alle Fleisch bräuchten. Deshalb gingen wir zu einem Bauernhof – die Gegend war voll von Bauernhöfen, obwohl keiner von ihnen groß war. Wir gingen zu einem Bauernhof und einer der Russen brachte ein Maschinengewehr mit. Die Russen sagten zu dem Bauern: „Wir wollen Sahne.“ Der sagte, dass sie keine haben könnten, weil er sie verkaufe. „Du verstehst nicht“, sagte der Russe, „wir wollen die Sahne.“ Als der Bauer sich weigerte, sie herauszugeben, wurde er auf der Stelle erschossen. Für die Russen war das nichts. Dann gingen sie zu einem anderen Bauernhof. Sie wollten ein Kalb wegen des Fleisches töten. Auch dort gab es Widerstand. Deshalb erschossen die Russen den alten Bauern und erschossen dann das Kalb, um das Fleisch zu bekommen. Ein amerikanischer Soldat war dabei. Die Amerikaner erschossen auch deutsche Zivilisten. Es gab keine Ordnung zu dieser Zeit.
Was uns betraf, wir leerten verschiedene Häuser. Nachdem wir aus den ersten zwei Häusern vertrieben worden waren, weil sie Teil des amerikanischen Hauptquartiers wurden, bekamen wir unser eigenes Gebäude, das aus einem Haus, einer Scheune und noch etlichem mehr bestand. Wir leerten dieses Haus aus. Schließlich hatten wir Koffer gefüllt mit allem Möglichen – Gold, Silber, was immer wir dachten, das wertvoll sei. Wir hatten sehr viele Koffer voll mit diesen Sachen.
Wir freundeten uns mit den Russen an, die zu den ersten Häftlinge gehörten, die wieder in die Heimat geschickt wurden. Ihre Repatriierung begann nur 10 Tage oder zwei Wochen, nachdem wir befreit worden waren. Es wurde in Jalta ein Abkommen zwischen Russen, Amerikanern und Briten geschlossen, dass alle russischen Kriegsgefangenen in die Heimat zurückgeschickt würden. Sobald sie die russische Grenze überschritten, wurden die Offiziere erschossen und die gewöhnlichen Soldaten wurden jahrelang zur harten Arbeit in den Gulags geschickt. Die sowjetische Regierung glaubte, dass diese Leute sich nicht den Deutschen hätten ergeben dürfen, unter keinen Umständen.
Im Frühjahr gingen die Russen bereitwillig. Während des Sommers allerdings, als Informationen darüber durchsickerten, was den früher Repatriierten geschehen war, gab es verzweifelten Widerstand der früheren Kriegsgefangenen, wenn sie aufgefordert wurden in die Sowjetunion zurückzukehren. Im September ordnete General Eisenhower eine Änderung der amerikanischen Politik der schnellen Repatriierung an, aber später unter dem Druck der Briten, nahm er das wieder zurück.
Viele tausend der russischen Kriegsgefangenen waren im Raum München gewesen. An dem Tag, an dem die Amerikaner begannen, sie zurückzuschicken, hielten die Russen eine große Party ab mit allen möglichen Speisen. Jeder wurde eingeladen. Unsere Familie, die weiterhin zusammenblieb, wurde eingeladen, aber mein Vater konnte nicht gehen. Es war immer noch sehr schwierig für ihn, zu gehen. Deshalb blieb er im Haus und wachte über unseren neu erworbenen Reichtum.
Als mein Bruder und ich uns zum Essen setzten, sahen die Russen, dass unser Vater nicht dabei war. Sie fragten, wo er sei und gingen dann, um ihn herüberzubringen. Während des Essens bemerkten wir, dass mehrere Russen verschwanden. Wir wussten nicht warum. Wir fanden es später heraus. Sie waren zu unserem Haus zurückgegangen und alles dort verschwand. Sie würden am nächsten Tag fahren und deshalb stahlen sie alles. Unser ganzer Reichtum war sehr methodisch von den Russen übernommen worden.
Nachdem wir ein paar weitere Tage in Seeshaupt verbracht hatten, beschlossen die Amerikaner, dass in diesem Gebiet zu viele frühere Häftlinge seien und dass ein Lager aufgebaut werden müsste, um sie alle an einen Platz zu bringen. So holten sie uns zusammen und verluden uns auf Lastwagen. Wir wollten nicht weg. Wir hatten es gut in Seeshaupt und glaubten, dass es keine Eile hätte, es zu verlassen. Die Amerikaner aber beschlossen, dass sie uns nach München bringen würden.
Da noch kein zentrales Lager bereit war, wurden Zehntausende Russen, Briten, Franzosen und frühere Häftlinge aller Nationalitäten zusammen mit uns in einem riesigen Komplex in Apartmentgebäuden in der Nähe des Zentrums untergebracht. Während wir dort waren, es war Ende Mai, war der jüdische Feiertag „Shavuot“, der Frühlings-Feiertag. Wir bereiteten in eines der Apartments für den Gottesdienst vor. Es war ein warmer Abend und wir sagten unsere Gebete auf, als es an der Tür klopfte. Es kam ein amerikanischer Offizier, Captain Kaufman. Er war aus Brooklyn, sprach jiddisch und hatte uns beten hören. Er wollte sich anschließen. Wir hießen ihn willkommen. Kaufmann war der Befehlshaber der Truppen, die Dachau befreit hatten. Die Soldaten unter seinem Kommando- es waren ungefähr hundert – waren geistig überfordert von dem, was sie sahen. Sie kamen damit nicht zurecht und wurden nach Amerika zurückgeschickt. Kaufman selbst wurde sehr scharf auf Vergeltung. Er wollte so sehr Rache zu üben, nachdem er zurückgeschickt worden war, dass er mit demselben Schiff zurückkehrte, mit dem Soldaten als Ersatz transportiert wurden. Dachau war zu diesem Zeitpunkt ein Gefängnis für Tausende SS-Leute geworden. Captain Kaufman wurde als Befehlshaber eingesetzt. Er war aber zu scharf gegen die Deutschen, und wurde des Amtes enthoben.
Es war nicht die Politik der amerikanischen Besatzer, zu scharf zu sein. Kaufman hatte seinen Vorgesetzten gebeten, ihn zum Kommandeur zu machen und erzählte uns, dass er die SS-Leute dazu brachte, rund um die Uhr zu arbeiten, indem er die LKW-Lichter anmachte, wenn es dunkel wurde, so dass sie weiter arbeiten konnten. Ich weiß nicht, ob es dabei Schläge gab, aber er brachte die SS-Leute dazu, alle Körper von verstorbenen Insassen zu beerdigen und so weiter. Die Deutschen beschwerten sich. Sie waren die SS. Sie waren an solche Arbeiten nicht gewöhnt.
Als Kaufmann an dem Abend von Shavuot an unsere Tür klopfte, war er dabei, sich fertig zu machen, um das zweite Mal nach Amerika zu gehen. Als er hörte, dass mein Vater drei Brüder hatte, die in den Vereinigten Staaten lebten, versprach er sie zu finden um sie zu fragen, warum sie nicht kämen, um uns zu helfen. „Sie sollten jetzt hier sein“, sagte er, „und versuchen euch herauszubringen.“
Er tat wie versprochen. Als er nach New York zurückging, suchte er meine Onkel auf und wies einen zurecht, indem er fragte: „Wie können Sie das tun? Wie können Sie hier sitzen und nicht versuchen ihre Neffen und ihren Bruder nach Amerika zu bringen?“
Ich hatte einen Cousin, der ein Richter am New York Surpreme Court wurde. Der Cousin reagierte auf diesen Vorwurf und sagte zu seinem Vater: „Wie kannst du hier sitzen und nicht deinem Bruder helfen?“ So bewirkte Kaufman etwas.
Wie sich herausstellte, hatten meine Onkel vorher nicht gewusst, dass wir noch am Leben waren und befreit wurden. Sie hörten zum ersten Mal von uns durch Captain Kaufman.
Ich erfuhr später, dass ein anderer Cousin während des Krieges ein Air Force-Pilot war. Sein Flugzeug wurde über den Ploesti-Raffinerien in Rumänien abgeschossen.
Das Militär eröffnete für die befreiten Häftlinge ein großes Lager in den Außenbereichen von München. Die dritte Armee war dafür verantwortlich, denn zunächst gab es keine Verwaltung und politische Organe. Es war totales Chaos. Als etwas Ordnung hergestellt wurde, wurden die Leute im Lager nach Nationalitäten gruppiert – Rumänen, Ungarn, Tschechen und so weiter. Wir wurden nicht als Juden eingestuft, sondern als Rumänen. Als Rumänen gehörten wir nicht zu den Alliierten, und denen wurde der Vorzug gegeben. Die Franzosen erhielten den Vorzug. Genauso die Tschechen. Und die Griechen. Und so weiter. Wir wurden so betrachtet, als wenn wir zu den Achsenmächten gehört hätten, und deshalb erhielten wir nicht die Vorzüge, die den Häftlingen der alliierten Länder gewährt wurden. Aber wir waren frei.
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