Für das Erinnern
Erich Finsches wurde als einziges Kind seiner Eltern am 11. September 1927 in Wien geboren. Sein Urgroßvater war ein evangelischer Kirchenfürst und hatte acht Söhne und eine Tochter. Vier Söhne kämpften im österreichisch-preußischen Krieg auf der Seite der Österreicher und vier auf der Seite der Preußen. Er legte das Gelübde ab, wenn alle acht Söhne nach der Schlacht bei Königgrätz 1866 wieder lebend nach Hause kämen, würden er und seine Familie zum jüdischen Glauben übertreten. Alle kamen heim und so erfüllte er das Gelübde. Deshalb ist Erich jüdischer Konfession, auch wenn er sich selbst als nicht sehr gläubig bezeichnet. Sein Motto: „Seid menschlich zueinander und lebt nach den zehn Geboten“.
Sein Vater Julius Finsches wurde am 18. Juni 1881 in Wien geboren. Er war gelernter Uhrmacher und Juwelier und später im Lebensmittelhandel tätig. Auch Erichs Vater Julius war Häftling im KZ Dachau, mehrere Jahre vor Erichs Ankunft. Nach seiner Entlassung aus Dachau im Januar 1939 floh er nach Frankreich und wurde dort interniert. Diese wehrtüchtigen Flüchtlinge wurden von der französischen Armee zu einem Bataillon zusammengestellt, das bei einem deutschen Angriff bei der Besetzung von Südfrankreich in erster Linie aufgerieben wurde. Er wurde verwundet, in ein Lazarett gebracht und im Internierungslager Récébédou am 17. September 1942 ermordet.
Erichs Mutter Else, geborene Nettel, wurde am 8. Juni 1886 in Mislitz, Südmähren, geboren. Sie wurde 1942 in Maly Trostinec bei Minsk in Weißrussland ermordet. Bis zum Vollzug des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938 hatte Erich eine relativ ruhige Kindheit, aber es änderte sich dann schlagartig. Im April 1938 musste er als Jude die Schule verlassen. Er wurde von zwei Hitlerjungen beschimpft: „Jud, Jud, spuck in den Hut. Sag deiner Mutter das ist gut“. Obwohl die Burschen älter und größer waren als er, gingen sie auf ihn los und verprügelten ihn. Erich wehrte sich nach Kräften und nachdem beide verletzt waren, gaben sie auf.
Nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 wurden viele Männer verhaftet. Auch Erich Finsches wurde gefangen genommen und der Gestapo überstellt. Dort wurde er verprügelt und kam zu einem Gruppenführer zum Verhör. Er versetzte ihm solche Fausthiebe, dass Erich fast bewusstlos war. Der Gruppenführer fuhr ihn an, dass Erich mit seinem Sohn und dessen Freund gerauft habe und einem die Hand gebrochen und dem anderen einen Zahn ausgeschlagen habe. Er wurde erneut zusammengeschlagen.
Nach einigen Monaten bei der Gestapo wurde der Beschluss gefasst, den elfjährigen Erich nach Eisenerz in der Steiermark in ein Arbeitsertüchtigungslager zum Erzabbau zu schicken. Die äußerst schwere Arbeit – Erich musste Erz in die Loren schaufeln – mit einer großen Schaufel, die länger war als er selbst, konnte er nicht bewältigen. Nach einigen Wochen fasste er den Entschluss zu fliehen, da er die Strapazen nicht überlebt hätte. Es glückte ihm die Flucht in den Wald. Mit seinen elf Jahren machte er sich auf den Weg zurück nach Hause. Er durfte keine Straßen und Wege benutzen, da nach ihm gesucht wurde.
Nach einigen Wochen durch Wald und Feld erreichte er Wien. Seine Mutter hatte die alte Wohnung verlassen müssen, die arisiert wurde. Erich fand seine Mutter. Er konnte jedoch nicht bei ihr bleiben, da er immer noch von der Gestapo gesucht wurde. Mit Hilfe von Freunden und Bekannten konnte er zwei Jahre im Untergrund als sogenanntes „U-Boot“ leben. Erich ging am Prater betteln, teilweise konnte er am Naschmarkt etwas arbeiten. Er lernte eine ältere Frau kennen, eine Antifaschistin, die ihn zeitweise beherbergte und auch für ihn gekocht hat.
Bei einer Razzia im August 1941 wurde er aufgegriffen. Er wurde zwangsverpflichtet und musste zwei Monate als Bauhilfsarbeiter arbeiten, dann als Kohlenschaufler in einer Wäscherei, aber dann floh er zusammen mit einem Freund nach Budapest in Ungarn. Sie wurden interniert, bekamen mit Beziehungen eine Aufenthaltsgenehmigung und kamen in ein jüdisches Waisenhaus. Dort gab es wenig zu Essen und sie organisierten Lebensmittel aus dem Vorratskeller des Direktors. Sie flogen aus dem Heim hinaus.
Dann begann er im Winter 1942/43 eine Lehre als Elektroinstallateur. Über Tauschhandel kam er in Kontakt zu deutschen Soldaten und spionierte sie aus. Erich Finsches erzählt, dass er Informationen an den jugoslawischen Widerstand weiter gegeben habe und dabei einmal Josip Tito, dem späteren jugoslawischen Präsidenten, begegnet sei. Er wurde Mitglied einer Widerstandsgruppe und führte Sprengungen von Bahngleisen durch. Er wurde beauftragt mit Widerstandskämpfern eine Brücke zu sprengen. Bei dieser Sprengung erlitt Erich einen doppelten Bauchdurchschuss und eine Kopfverletzung und wurde verhaftet. Nach langen Verhören wurde er endlich in ein Spital gebracht und dort behandelt. Anschließend wurde er nach Auschwitz abtransportiert. Bei der Selektion an der Rampe nahm er all seine Kräfte zusammen und wurde den Arbeitsfähigen zugeordnet. Er kam in ein Arbeitslager mit Juden, Zigeunern und von den Nationalsozialisten als „Kriminelle“ Inhaftierten. Die Arbeitsbedingungen waren äußerst hart und wer sein Soll nicht erfüllte, wurde misshandelt.
Mitte September 1944 wurde Erich von Auschwitz nach Mühldorf am Inn, einem Außenlager von Dachau transportiert. Das Lager in Mühldorf bezeichnete er als das Härteste. Im Rahmen des Jägerplanes sollten sechs halbunterirdische Fabriken zur Produktion des ersten Düsenjägers der Welt, ME 262, der Firma Messerschmidt errichtet werden, eine davon in Mühldorf. Der Baubeginn war im Juli 1944 und bis Kriegsende wurden sieben gewaltige Bögen der geplanten zwölf der Fabrikhalle errichtet.
Erich Finsches war im Hauptlager Mettenheim M I und musste täglich auf die etwa 3 km entfernte Baustelle marschieren. Dort musste er 50 kg schwere Zementsäcke von den Eisenbahnwaggons zu den Mischmaschinen tragen bzw. Kies, der neben die Loren fiel, wieder hineinschaufeln. Normalerweise fiel der Kies nach Öffnen der Klappen unter der eigenen Schwerkraft in die Loren. Wurden die Klappen zu stark geöffnet oder die Loren standen nicht richtig, so ergoss sich der Kies über die Häftlinge. Erich wurde viermal verschüttet.
Im Herbst durften die Häftlinge teilweise auch bei der Kartoffelernte helfen und bekamen dort auch etwas zu essen. Die Zustände im Lager waren grauenhaft. Ständig plagte die Häftlinge Hunger. Die Verpflegung betrug etwa 1000 kcal, für schwerarbeitende Bauarbeiter sollte sie 4000 kcal betragen. Auch die Bekleidung mit den Drillichanzügen war besonders im Winter völlig unzureichend. Teilweise stopften die Häftlinge sich Zementpapiere in die Kleidung, um sich vor der Kälte zu schützen. Als Schuhe hatten sie nur Holzpantinen, die ungeeignet bei Nässe und Schnee waren. Auch die medizinische Versorgung war katastrophal.
Im Februar bei minus 20 Grad Celsius brach Erich zusammen und verlor das Bewusstsein. Er wurde mit Wasser überschüttet. Als er wieder aufwachte, war alles fest gefroren. Seine Kameraden haben ihn „aufgetaut“, aber er hat bleibende Schäden an den Füßen und Oberschenkeln behalten. Insgesamt hatte Erich mit seinem ungeheueren Lebenswillen das Lager Mühldorf über sechs Monate überlebt. Die durchschnittliche Lebensdauer in Mühldorf betrug nur 80 Tage.
Im März ging es Erich besonders schlecht und er wurde als „Muselmann“ für einen Transport nach Kaufering selektiert. Dieser Transport startete am 4. April 1945 mit 1050 meist sehr kranken Häftlingen von Mühldorf nach Kaufering. Nach meinen Recherchen ist Erich der einzige derzeit noch Lebende dieses Transportzuges. Die Zustände im Lager Kaufering waren katastrophal. Die kranken Häftlinge hatten meist Typhus und Phlegmone und bekamen fast nichts zum Essen.
Die Befreiung des Lagers Kaufering durch die US-Armee erfolgte am 27. April 1945. Erich wog bei der Befreiung mit 17 Jahren nur 29 kg. Er wurde von den Amerikanern in einem Militär-Krankenwagen nach Holzhausen bei Buchloe gefahren. Das ehemalige Schloss Rudolfshausen gehörte der katholischen Kirche und diente nun als Lazarett. Nach langer Zeit wurde er wieder gepflegt, versorgt und menschlich behandelt. Von dort wurde er in ein Lazarett in Landsberg verlegt, dann nach Dachau ins befreite Stammlager. Mit einer Gruppe von Österreichern wurde er nach Vorarlberg transportiert, um die körperlichen Schäden zu reparieren und sich wieder an ein normales Leben zu gewöhnen.
Im Oktober 1945 kam Erich wieder in seine Heimatstadt Wien. Er baute sich eine Existenz auf. Er arbeitete als selbstständiger Taxi-und Lastwagenfahrer, stellte Marmeladen und Getränke her, hatte einen Kiosk und war letztlich in der Gastronomie tätig. Wegen seiner Verletzungen an den Beinen und am Rücken bekam Erich Finsches einen Schwerbehindertenausweis mit 100 Prozent. Für die erlittenen Schäden erhielt er eine einmalige Zahlung von 4000 Schilling, heute ca. 250 €, ein lächerlicher Betrag für die lange Leidenszeit von sieben Jahren. Erich Finsches hat nicht nur diese Verletzungen erlitten. Er hat durch die brutalen Schläge auf dem Bock auch eine Niere verloren. Auch hat er sich Angina Pectoris zu gezogen. Trotz dieser gesundheitlichen Probleme ist er ein liebevoller Mensch geblieben.
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Erich lebte dreimal in Lebensgemeinschaften, war aber nie verheiratet. Mit seiner dritten Lebenspartnerin Reli lebt er seit 19 Jahren zusammen und ist sehr glücklich. Erich Finsches ist ein sehr kreativer Mensch. Er wurde Anfang der 2000er Jahre Filmschauspieler. In der Rolle des pensionierten Ingenieurs Walter trat er in dem Film Hundstage des Regisseurs Ulrich Seidl auf, der den großen Preis der Jury auf den Filmfestspielen in Venedig 2001 erhielt. Weitere Filme folgten. Erich Finsches hat es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, über seine Leidensjahre zu berichten. Seit Jahren fährt er zu Schulen, Vortragsveranstaltungen und Gedenkfeiern und spricht über seine Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus. Als Zeitzeuge schafft er es mit klarer Stimme die Schüler und Erwachsenen in seinen Bann zu ziehen. Bei dem Zeitzeugengespräch 2019 in Dachau fesselte er die Zuhörer fünf Stunden. Dies ist schon rein physisch und geistig eine gewaltige Leistung.
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In der Stadthalle von Deggendorf sprach er vor 600 Schülern 2019 im Rahmen der Woche der Begegnung. Die Schüler waren von seinen Ausführungen sichtlich ergriffen und beeindruckt. Insbesondere richtete er einen Appell an die Jugend, dass sie wachsam sein sollten für die aufkommenden Strömungen von rechts. Er betonte immer wieder: „Das darf nicht wieder geschehen“. Erich Finsches ist ein lebensbejahender, optimistischer Mensch, der trotz seines hohen Alters und seiner körperlichen Gebrechen, die Strapazen auf sich nimmt, seine Erlebnisse seinen Mitmenschen mitzuteilen. So hofft er, dazu beizutragen, dass solche schrecklichen Er-eignisse nie wieder passieren.
Literatur und Quellenhinweise: Vorträge im KZ-Dachauer Zeitzeugengespräch ( SZ.de, 26.April 2019, „Im Visier der Gestapo“, Kurier Dachau „So etwas darf es nicht noch einmal geben“ 8.5.2019) und im Rahmen der Woche der Begegnung in Deggendorf 2019. USC Shoah Foundation, Visual History Archive, Interview 50316 mit Erich Finsches vom 13.7.1998, Transskript Freie Universität Berlin, 2012. Peter Müller: Rüstungswahn und menschliches Leid-Bewältigung und Erinnerung , Mühldorf 2012.
Abbildungsnachweise: Alle Fotos mit Ausnahme der Bunkerbaustelle Stadtarchiv Mühldorf hat Herr Matthias Jaklitsch, Freischaffender Filmemacher, 1070 Wien, aufgenommen teilweise von Privatfotos von E. Finsches.
Zum Autor: Dr. Erhard Bosch war jahrelang 2. Vorstand des Vereins: „Für das Erinnern KZ-Gedenkstätte Mühldorfer Hart e.V.“ und kennt Erich Finsches von den Gedenkveranstaltungen in Mühldorf und den Vorträgen in Dachau und Deggendorf 2019