Entnommen dem Büchlein: Im KZ- zwei jüdische Schicksale, FFm 2012
Georg Heller
geb. 1923 in Budapest, war von Juni 1944 bis Januar 1945 in Auschwitz, wurde 1947 in Mathematik promoviert, studierte anschließend in Budapest Romanistik und Slawistik und arbeitete fortan als Übersetzer. Er floh 1956 nach Deutschland und lebt seither in München. Von 1965 bis 989 lehrte er Ungarisch an der dortigen Universität.
Seinem Beitrag im genannten Buch ist der Abschnitt entnommen, der sich mit seinen Erlebnissen im Waldlager V bei Ampfing und seine Tätigkeiten beim Bau des Rüstungsbunkers befasst.
Von HGeorg Heller gibt es auch ein Zeitzeugeninterview unter folgender Adresse: ARD-Alpha
A 12153 Bericht eines Jahres (ab S.143ff)
Ampfing
Ungefähr gute zwei Wochen lang durften wir die Gastfreundschaft des KZ Dachau genießen. In dieser Zeit hat uns niemand von der Lagerverwaltung belästigt: Sie hatten viel zu große Angst, sich mit Flecktyphus zu infizieren. Wir bekamen jeden Tag unser Brot und unsere Suppe; und wir konnten schlafen, so viel wie nur möglich. In der zweiten Woche konnten wir uns über das Physische hinaus auch psychisch erholen: Thomas erklärte uns immer wieder die Symbolik der Dreigroschenoper; Imre hat sich in den Roman Buddenbrooks vertieft; und ich schwärmte für die Pinguininsel von Anatol France. A propos Dachau: Offensichtlich hatten wir herzlich wenig über Dachau gewusst; wir vermochten es nicht einmal geographisch zu orten. Dass hier das erste KZ errichtet worden ist, dass hier Leute von unserer Sorte und Mentalität zu Tode geschunden wurden – ja, das war Allgemeingut. Wir kannten sogar das Lied der Moorsoldaten. Aber, zum Beispiel, dass Dachau nur unweit von München liegt ...,. das war eine vollkommen neue Information.
Es gab keine Abschiedszeremonie, auch kein Kofferpacken. Wir verließen Dachau ohne einen Schritt außerhalb des Quarantänebereichs getan zu haben ohne etwas von dieser „Mutter der KZs“ gesehen zu haben. Wir verließen also Dachau, auf gewohnte Weise: in einem Zug.
Diesmal jedoch saßen wir nicht in einem Viehwaggon, sondern in einem echten Personenwagen. Die Vorhänge waren zusammen genäht. Berühren verboten; keine Sicht nach außen.
Wie viele Passagiere mitfuhren, weiß ich nicht. Auch nicht, ob sich welche unter ihnen befanden, die in den Leichenwägen aus Groß-Rosen gereist waren. Es ist uns völlig gleichgültig geworden, wer sie sind, was sie durchgemacht hatten – was hätten sie Neues erzählen können? Im Übrigen, die Verständigung unter uns Häftlingen lief auch ohne Sprachkenntnisse glatt. Die wichtigsten Vokabeln waren allgemein bekannt: Wasser, Brot! Kein Interesse an der Vergangenheit, an der Zukunft sowieso nicht – wichtig waren stets die allernächsten Minuten.
Echte Überraschung: die Reise dauerte diesmal nur wenige Stunden. Der Bahnhof, wo wir ankamen, hieß Ampfing; Mit diesem Ortsnamen konnten wir eh nichts anfangen. Unweit von Dachau auf jeden Fall – aber in welche Richtung?
Vom Bahnhof aus – ach wo, eine kleine miese Bahnstation! – sind wir in ein Wäldchen marschiert. Dass auch der neue Wohnsitz ein Lager war, konnten wir an der Maschendraht-Umzäunung und an den Wachtürmen erkennen. Die waren etwas kleiner ausgefallen als anderswo, dafür waren die Reflektoren größer. Zwei Wachsoldaten hüteten den Eingang; zwar von der SS, doch nicht erkennbar, von welcher Division. Immerhin nicht die strammen, blonden hoch aufgeschossenen Kerle, die im „Stürmer“ posierten. Hinter dem Tor befand sich das eigentliche Lager. Gleich vorne die Behausung der Wachmannschaft, weiter weg die Lagerleitung und verschiedene ebenerdige Dienstgebäude. Alles sah ziemlich primitiv aus. Aber wo sind die Häftlinge untergebracht?
Am Appellplatz wurden in kleinen Gruppen von zehn, zwölf Leuten zusammengefasst und jeweils von einem Wachsoldat abgeführt. Unweit vom Appellplatz, unter den Bäumen, erspähten wir dann kleine Erhebungen aus der Erde mit Holztüren – ach wie schön! In solchen Erdlöchern pflegen die Bauern in den Dörfern der ungarischen Tiefebene Eisblöcke aufzubewahren, die man im Winter aus dem gefrorenen Teich gehauen hat. Romantik pur! Soll das eine Unterkunft für Menschen sein?
Ein Witz!
Es war kein Witz. Hinter der Holztür verbarg sich eine Grube. Über drei bis vier Stufen, die mit Ästen ausgelegt waren, gelangte man in einen länglichen Schacht, ungefähr 5-6 Meter lang, eineinhalb Meter breit, und nicht ganz einen Meter tief. Rechts und links von diesem Mittelschacht befanden sich die Schlafflächen – auf dünnen Brettern eine dünne Schicht aus Stroh. Die lichte Höhe der Hütte, vom Boden des Schachts bis zur Bedachung, betrug nicht ganz zwei Meter. Hinten in der Hütte hing eine kleine nackte Glühbirne, die abends von der Kommandantur aus für ein-zwei Stunden eingeschaltet wurde. Die Bedachung der Hütte war ein primitives Holzgestell, oben mit Moos und Laub bedeckt – die Ähnlichkeit mit einem Maulwurfhügel wäre nicht abwegig gewesen. Dies alles hieß Waldlager: eine treffende Benennung. Es wäre noch zu erwähnen: es war immer noch Februar – dafür war der Palast ziemlich luftig und ungeheizt.
Nun, es hat sich bewahrheitet, was mir seinerzeit (ist das die Möglichkeit: sind seitdem 9 Monate vergangen- für mich eine halbe Ewigkeit) der ukrainische Tätowierkünstler gesagt hat: seid froh, dass ihr in das Stammlager Auschwitz kommen werdet. Die Lebenserwartung ist dort zwar begrenzt, aber dafür könnt ihr unter angenehmeren Umständen krepieren ...
Wie erwähnt, angekommen sind wir in dem Lager an einem Nachmittag; dann haben wir die sonderbaren Schlafräume bezogen: jede Hütte bot Platz für ein Dutzend Männer – aber die Lagerleitung hat diese Zahl nie als Obergrenze betrachtet. Wir zu dritt wollten wie immer zusammen bleiben; es ging nicht. Andere Mitbewohner besaßen bereits Stammplätze. So haben Imre und ich nebeneinander einen freien Zwischenraum gefunden; Thomas dagegen wurde an die hintere Wand, unter der Funzel, abgedrängt.
Wir versammelten uns am Appellplatz. Nacheinander trudelten die Kommandos ein: krumme Haltung, gleichgültige Gesichter. Wie gewohnt, wie bis jetzt überall. Nur mit einem wichtigen Unterschied: man sah keine Pyjamas. Die Sträflinge trugen zumeist Zivilkleidung. Nach dem Abendessen – nur ein Stückchen Brot mit Kräutertee – kehrten wir in die Hütte ein, um bis Morgen Erholung im Schlaf zu finden. Vergebliche Hoffnung. Es hat mich die ganze Nacht gejuckt. Erst in der Frühe habe ich die Quelle der Genüsse ausfindig gemacht: es waren Läuse. Massenhaft. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich noch keine Läuse gesehen – in Auschwitz hat man peinliche Sauberkeit gepflegt, auch in Dachau war die Welt in Ordnung. Und jetzt, diese ekligen Viecher! Sie tummelten sich überall in der Kleidung, hauptsächlich in den Nähten. Ich habe versucht, einige von denen während der morgendlichen Kaltwasser-Toilette los zu werden. Für eine gründliche Reinigung hätte die Zeit sowieso nicht ausgereicht; wir mussten zum Appell antreten.
Ach, ich hätte etwas Wesentliches fast vergessen. Zu jeder menschlichen Behausung gehört auch ein Örtchen, wo man sich von den Schlacken des organischen Lebens befreien kann. Nun, diese Einrichtung wurde im Waldlager genial praktisch gestaltet: eine längliche Grube, ungefähr 5-6 Meter lang (weiß nicht, wie tief). Darüber in etwa 60 Zentimeter Höhe, eine ebenso lange, starke Stange mit Stützen an beiden Enden errichtet – nämlich um darauf zu hocken. Das war’s. Fürs Wasserlassen hat man die Grube nicht bedurft – die Prozedur pflegte man im Umkreis der Hütte zu erledigen, zumal die meisten 6-7 Mal austreten mussten. Aber das große Geschäft! Man hatte nachts Angst gehabt, in der Dunkelheit in die Grube zu stürzen; andererseits, als schon fast diese ganze Gesellschaft an Dysenterie litt, kam der Durchfall so plötzlich über einen, dass die Zeit nicht mehr reichte, bis zur Grube zu taumeln.
Also, der Appell war vorbei – marsch an die Arbeit. Es folgten weitere Überraschungen. Man führte uns, wie gewohnt in Fünferreihen zur Arbeit: vorne zwei-drei SS ohne Hunde; am Ende der Kolonne mehrere von denen, mit Hunden. Wir liefen in Richtung Bahnstation. Hinter den Gleisen führte unser Weg in ein Wäldchen ... und da erblickten wir die Baustelle: etwas ganz Besonderes – wieder wie für Piranesi geschaffen! Obwohl in seinen Phantasien Freiluft-Bauten nie vorgekommen sind. Was wir vor uns sahen: ein monumentales Betongewölbe, ungefähr ein Drittel einer kreisförmigen Scheibe. Ich konnte die Masse des Gewölbes nicht schätzen – ich habe in den späteren Jahren, obwohl ich reichlich Gelegenheit gehabt hätte, den Tatort nicht aufgesucht. Ich erinnere bloß an das russische Sprichwort: Angst macht große Augen! – aber es kommt mir so vor, als ragte der Bau um die 20 Meter in die Höhe, und war am Sockel doppelt so breit. Alles mit Gerüsten voll gestopft, Stangen aus Stahl ragten aus den Verschalungen, vorne waren einige kleinere Baukräne aufgestellt, beherrscht von einem einzigen mächtigen Turmkran.
Auf ein Zeichen – was war das für ein Zeichen – wer hat es ausgestoßen? – stürmten die Häftlinge los: sie ergriffen – je nachdem – Schubkarren oder Schaufeln und eilten zu einer Stelle, wo Säcke mit Zement lagerten. Manche luden die Säcke auf die Karren, manche jedoch versuchten, sie zu schultern; der Vorgang wurde durch Geheul und Schläge des Aufsichtspersonals beschleunigt.
Unser Trio hat zwar noch nie auf so einer Baustelle gearbeitet, dafür aber besaß es reichlich Erfahrung: in solchen Fällen muss man blitzschnell die leichteste Tätigkeit erspähen und dann emsiges Nichtstun vortäuschen. Anscheinend waren die hiesigen Häftlinge noch ziemlich neu in dem Metier; sie bewegten sich jämmerlich ungelenk – besonders als sie die schweren Zementsäcke auf schwankenden Brettern in achtzehn Meter Höhe schleppten. Man hätte zwar diese Säcke auf Paletten laden und mittels Kräne hinaufhieven können, aber so hätte die Bauleitung das Doppelziel nicht erreichen können: Bau fertig stellen – und Menschen vernichten.
Tagsüber, während der Arbeit, sind die SS-Wachleute nicht in Erscheinung getreten. Herrscherin über alles war die Organisation Todt: sie hatte den Auftrag erhalten, hier eine bombensichere Fabrikationshalle für Messerschmidt-Flugzeuge zu errichten. Ingenieure, Poliere, Facharbeiter wurden von der OT gestellt; ihr gehörten auch die Vorarbeiter und Aufseher an, die, was Brutalität betrifft, sich mit der SS hätten messen können. Wehe dem armen Unglücklichen, der den schweren sack fallen ließ! Es gab jedoch auch Schlimmeres: wenn der Mensch auf dem Schwebebalken das Gleichgewicht verlor und in die Tiefe stürzte. Für ihn gab es keine Rettung mehr.
Wir haben ziemlich schnell entdeckt, dass die vorherrschende Sprache ungarisch war. Woher, wann sind sie angekommen? Das sie sich in viel besserer körperlicher Kondition befanden als wir drei aus Aschwitz, war offensichtlich; Ihre Kleidung war fester, wärmer gewesen. Nach und nach hat sich das Bild aufgeklärt. Am 15. Oktober 1944 hatte in Ungarn ein Putsch der Faschisten stattgefunden. Nach der Machtübernahme gab es für die Budapester Juden keinen Schutz mehr. Alle Männer zwischen 16 und 60 wurden in Scharen gen Westen getrieben, zumeist zu Fuß. Kurze Zeit später kamen auch die Frauen an die Reihe. Nur ein Teil von ihnen hat die österreichische Grenze erreicht. Seltsamerweise folgten die österreichischen Eisenbahner dem Beispiel ihrer reichsdeutschen und ungarischen Kollegen nicht – sie haben Güterwaggons für diese Massen eingestellt. Die Männer kamen dann entweder in den Steinbruch von Mauthausen oder in die Nebenlager von Dachau, die meisten Frauen landeten in Bergen-Belsen.
Die Überraschungen im Waldlager nahmen kein Ende. Erfreulicherweise ertönten die Sirenen immer häufiger. Die Hoffnung wuchs von Tag zu Tag. Am Wochenende haben wir keine frische Unterwäsche erhalten. Die aus Dachau mitgenommene wurde nicht mehr gewechselt. Warmwasser zum Duschen oder Waschen gab es überhaupt nicht. Dafür vermehrten sich die Läuse unaufhaltsam. Sie hausten vermutlich in der Streu. Die Biester fühlten sich ungefährdet, die Lagerleitung nahm die Sache gleichgültig hin, wie überhaupt alles, was Hygiene betraf.
Sonntagvormittag habe ich die Freizeit mit fruchtlosen Versuchen in puncto Entlausung verbracht. Dann trieb mich die Neugier, das Lager genauer kennen zu lernen. Gleich beim Beginn des Rundgangs habe ich eine Baracke entdeckt, mit der Aufschrift: Krankenstation. Ich habe sofort kehrt gemacht und die Freunde informiert: Vielleicht könnten sie hier als Medizinstudenten unterkommen und sich somit der Sklavenarbeit entziehen. Sie sind dem Tipp gefolgt, haben brav an der Tür der Station geklopft, um dann in weitem Bogen hinausgeschmissen zu werden: fünf Ärzte haben sich hier bereits in Untätigkeit geübt, ohne Instrumente und Verbandmaterial. Weitere Kollegen wären unerwünscht. Eigentlich konnten wir diesen Standpunkt gut verstehen, wir waren ja auch auf das eigene Überleben bedacht.
Bei einem nächsten Spaziergang kam ich an einer Hütte vorbei, wo die Holztür trotz Kälte sperrangelweit offen stand. Im Inneren wurde geraucht, auf Teufel komm raus; ich kannte diesen Geruch: echtes trockenes Waldlaub. Die Leute haben ziemlich laut diskutiert und zwar auf ungarisch. Ich schloss mich ungebeten der Gesellschaft an. Da entdeckte ich unter ihnen, trotz des Rauchs, einen entfernten Verwandten. Er war Jazzpianist, von Geburt an verwachsen. Die Behinderung hatte ihn vor der Deportation nicht gerettet. Ich habe von ihm erfahren, dass meine Familie im Oktober noch am Leben und wohlauf war. Sie wussten von der Verschleppung nach Auschwitz und waren der Meinung, dass ich dort längst umgekommen wäre. Er selber wurde noch im November von der Straße weg verhaftet und mit anderen Pechvögeln in verschiedenen Etappen, mal zu Fuß, mal per Bahn, über Wien und Linz hier eingeliefert, kurz bevor wir aus Dachau gekommen waren. Man sah es ihm zwar nicht an, aber er war bei guten Kräften und schlau genug, um nicht Zementsäcke schleppen zu müssen. Da er sich mit alten bekannten zusammengetan hatte, wollte ich ihm nicht lästig werden – ich habe ihm viel Glück gewünscht und ihn nicht mehr gesehen.
Die Kommandos zogen auch hier in Fünferreihen zur Arbeit und zurück und wie gewohnt suchte ich sich auch hier unser Trio einen Platz in einer mittleren Reihe, und auch dort in der Mitte. Wenn sich so ein Quintett formierte, blieb es im weiteren Verlauf beisammen: immer dieselben 5 Häftlinge, immer dieselbe Anordnung. Wer unser Flügelmann rechts war, daran kann ich mich nicht entsinnen, wir hatten seine zwangsläufige Existenz ohne weiteres hingenommen. Am linken Rand aber marschierte ein sympathischer, schweigsamer Geselle; nach unserer Schätzung gleichaltrig mit uns, und er schien noch unverbraucht, bei besten Kräften zu sein. Eigentlich hätten wir für einen Schwatz reichlich Zeit gehabt: der Weg zur Baustelle dauerte eine halbe Stunde. Wie es gekommen ist, ist ziemlich uninteressant: eines Morgens hat mich mein fremder Nebenmann angesprochen – und zwar nicht auf ungarisch, sondern Pidgin-Lagerdeutsch:“Woher kommen?“
Es war nicht schwierig zu erkennen: er hatte einen slawischen Akzent. Dank des unfreiwilligen Sprachunterrichts in Auschwitz habe ich auf polnisch geantwortet: falsch getippt! Er war Serbe, aus Dragujevac und hieß Vlado. Obwohl Partisan hatte er, als ihn eine Razzia der Gestapo in der Stadt schnappte, per Zufall keine Waffen mit sich geführt. Glück gehabt: er wurde bloß zusammengeschlagen und nach Dachau bzw. ins Waldlager Ampfing deportiert. Er wollte wissen, ob wir Ungarn seien. Er machte kein Hehl daraus, dass er die Ungarn hasst. „Warum das?“ wollten wir wissen. „Weil ihr in der Backa Tausende von Serben niedergemetzelt habt.“ Trotz Sprachschwierigkeiten konnten wir ihm klarmachen, dass wir mit den Mördern nichts gemein hatten. Im Gegenteil, mit den Serben zusammen wurden auch tausende von Juden ermordet. „Ach so? dann sind wir Freunde!“
Und es folgte die nächste Überraschung. Vlado, richtig kräftig und muskulös, hat im Zementlager gearbeitet. Seine Aufgabe war, die Säcke in die Schubkarren zu legen oder auf die Schultern zu heben. Freundschaft heißt bei Serben erst recht Freundschaft: von nun an hat er unsere Transporte so arrangiert, dass wir vier-fünfmal mit dem leeren Karren um den Haufen liefen, bis wir dann die Fahrt zur Baustelle aufnahmen. Eine echte Lebensrettung!
Eine andere Überraschung war weniger erfreulich. Trotz der Myriaden von Läusen hatte uns das Fleckfieber noch nicht erwischt; so ganz sicher konnten wir uns nicht fühlen. Dagegen schlug die Dysenterie mit voller Wucht zu. Zwar waren wir, was Ernährung betrifft, sehr vorsichtig gewesen: wir hatten nichts vom Boden aufgelesen, was essbar erschien. Das Unvermeidliche ist trotz allem eingetreten, wir haben uns der Reihe nach die Seuche geholt. Tag und Nacht, wir konnten den Stuhl nicht halten. Tagsüber durften wir die Arbeit deswegen nicht unterbrechen, und in der Nacht war es auch wegen der Erschöpfung nicht möglich, sich rechtzeitig aufzurappeln. Das Exkrement trocknete auf der Haut. Mangels Wasser musste man es förmlich mit den Fingernägeln von der Haut abkratzen. Und wir hatten immer noch die Unterwäsche an, die wir aus Dachau mitgenommen hatten.
Es geht dem Ende zu
Eines Morgens, so Ende März, hat mich ein Schreck ergriffen: bei dem Empfang der Brotration stand Thomas nicht neben mir. Ich habe Imre gefragt, ob er ihn gesehen hätte. „Nein!“ Wir ließen Brot und Tee stehen und rasten zurück in die Hütte. Von Thomas keine Spur. Wann er verschwunden war, in welchem Zustand und wohin ... als alte Häftlinge hatten wir keinen Zweifel mehr.
In diesen Tagen ertönte die Sirene häufiger als vorher. Amerikanische Bomber zogen über unsere Köpfe hinweg. Es war geradezu komisch, wie flink die Wächter und Treiber unter dem riesigen Betongewölbe Deckung suchten. Kaum war die Gefahr vorbei, gingen sie umso erbarmungsloser ihren Passionen nach. Die Schwerverbrecher-Kapos von Auschwitz hätten sich von diesen Mitarbeitern der Organisation Todt einiges abschauen können. Der Unterschied zwischen den beiden Spezies: Bei den Kapos war Grausamkeit zum Teil eine Zwangshandlung gewesen, Mittel zum Überleben; die Zivilen von der OT jedoch übten sich in Brutalität ohne Zwang. Wollten sie sich an uns rächen, weil am Ende doch wir, die Elenden, den Sieg davontragen würden?
Ein kleiner Giftzwerg, er war im besten Volkssturmalter, hat sich besonders hervorgetan. Er konnte nie an uns vorbeigehen, ohne uns mit einem Stock Hiebe zu versetzen oder die Stiefel an uns abzuwischen. Wer infolge dieser freundlichen Geste hingefallen ist – zu dieser zeit gab es nur schwache taumelnde Gestalten an der Baustelle -, der wurde von ihm, mit sichtbarem Genuss getreten.
Die Sirenen haben nicht nur Fliegerangriff angezeigt. Es kam wiederholt zu Fluchtversuchen. Einige Verzweifelte haben die Dunkelheit dafür genutzt, als die Kolonne abends eingerückt war und die Wachsamkeit der Eskorte nachgelassen hatte. Ob die wagemutigen Versuche zum Erfolg führen? Kaum. Spätestens beim Abendappell wurde das Fehlen entdeckt; die Wachmannschaft begann dann mit Hunden die umliegenden Wälder durchzukämmen. Der Flüchtige wurde gefunden – erschossen – und auf der Bahre ins Lager zurückbefördert; die Leiche wurde dann mitten auf dem Appellplatz zur Schau gestellt.
Anfang April hatte ich ein scheinbar unbedeutendes Erlebnis, das später mein ganzes Leben beeinflusst hat. Vlado, der Serbe, hat beiläufig erwähnt, dass sich in der Nachbarschaft des Waldlagers, auch noch ein zweites befindet: ein Frauenlager. Ich hatte seit einiger Zeit meine sonntäglichen Erkundungen eingestellt: die Säuberung der verlausten Kleidungsstücke und die Entfernung der Scheißschichten waren viel wichtiger geworden. Aber diesmal ... es könnte interessant werden. Tatsächlich, unweit hinter der Sanitätsbaracke habe ich die Frauen entdeckt. Die Entfernung zwischen dem Maschendrahtzaun unseres Lagers und dem des Frauenlagers betrug nicht mehr als zwei Meter; zwischen den beiden Zäunen gab es einen schmalen Streifen für die Kontrollgänge, der offensichtlich schon längere Zeit nicht
betreten wurde. Ich rief hinüber: Die Frauen waren Ungarinnen. Eine von ihnen hat sich Richtung Zaun bewegt und mir zugewinkt; ich fand sie auf Anhieb sympathisch. Nicht weil sie besonders hübsch gewesen wäre – offen gesagt, Hatte ich dafür damals kein Auge-, sondern, weil sie eine Nagelschere in der Hand hielt. Eine Nagelschere! So ein gerät hatte ich seit Monaten nicht gesehen. Ich bettelte sie an – sie warf mir die Schere rüber; leihweise, versteht sich. Wir kamen ins Gespräch. Sie hatte im Spanischen Bürgerkrieg an der Seite der Kommunisten gekämpft; nach der Niederlage war sie nach Frankreich geflüchtet und wurde von dort nach Ungarn abgeschoben. Sie konnte die Freiheit nicht lange genießen; als Jüdin hat man sie in den Novembertagen 1944 nach Dachau, beziehungsweise Ampfing deportiert. Sie wartete, wie wir, auf das Erscheinen der Amerikaner; wenn es so weit kommen würde, dann wollte sie schnurstracks nach Paris fahren. Jetzt aber bat sie mich: Sollte ich nach Budapest zurückkehren, sollte ich einige Genossen von ihr aufsuchen und von ihr Nachricht liefern. Ich habe diese Bitte erfüllt; die Folgen davon würden ein ganzes Buch füllen ... Nebenbei, sagte sie mir, sie hieße Ilona; ihren waren Namen konnte ich trotz Nachforschungen nie in Erfahrung bringen.
Ohne Kalender war es unmöglich, die Tage auseinander zu halten. Diesmal aber erinnere ich mich ganz genau. Am 9. April hat ein amerikanischer Angriff wieder Fliegeralarm ausgelöst. Es erschien aus dem Nichts eine amerikanische Maschine: So einen Typ hatte ich bis dahin noch nicht gesehen. Der Rumpf, wo die Piloten saßen und die Bewaffnung eingebaut war, hatte zwei Ausleger. Die Bordkanone spuckte Feuer – und zersägte den großen Baukran in zwei Stücke. Mit diesem Turmkran wurden die schweren vorgefertigten Betonelemente in die Höhe gehievt; sein Verlust hatte die Einstellung der gesamten Bautätigkeit zur Folge.
Jubel und Hallelujah bei den Häftlingen! Die Freude dauert nur kurz. Die Bauleitung hat sich sofort an uns gerächt: Es wurde befohlen, um den Torso der Fabrikhalle Schützengräben auszuheben. Der vollkommen sinnlose Befehl konnte nur einen Zweck haben: uns auf die grausamste Weise kaputt zu machen.
Flucht
Es wurde wieder ein Fluchtversuch unternommen – er missglückte. Er endete diesmal mit einer neuen Szenerie. Wir alle mussten uns in einer Reihe aufstellen, damit die Vorführung besser wahrgenommen werde. Die Leichenträger schritten die Front ab; der bläulich-lila Körper war mit nassem Laub bedeckt; an der Seite ließen sich mehrere Spuren von Schüssen beobachten – der Unglückliche hatte eine ganze Salve abgekriegt.
Nachdem Thomas uns verlassen hatte, grübelten Vlado, Imre und ich immer intensiver darüber, ob es nicht an der Zeit wäre, uns davon zu machen. Wir von Auschwitz erinnerten uns lebhaft, auf welche Weise ein KZ geräumt werden kann. Wir hofften, dass Vlado sich uns anschließen würde; er war doch nett, noch in bester Kondition, außerdem einschlägig erfahren -, obwohl er mit keinem Wort seine Zeit bei den Partisanen erwähnte. Seine Hilfe könnten wir gut brauchen.
Wann das Wort „Flucht“ konkret gefallen ist, lässt sich nicht ausmachen. Wir schritten nach wie vor in Fünferreihen in die Arbeit und zurück; es kümmerte uns nicht, dass die anderen zwei unseren Überlegungen zuhörten. Der eine blieb bis zum Schluss gleichgültig, um nicht zu sagen, apathisch; doch der Fünfte, ein 16-jähriger Arbeiterjunge aus Budapest, wurde Feuer und Flamme; er wollte sich partout uns anschließen. Nichts dagegen – höchstens, dass der Kleine ohne Unterlass Proletkultlieder summte, (Kitsch habe ich nie leiden können, obwohl sein Repertoire immer noch sympathischer war als das „Horst-Wessel-Lied“ oder die „Camicia nera“ der italienischen Faschisten). Es blieb nur noch zu entscheiden, wie und wann.
Das bild, das dieser letzte Tote bot, ging mir nicht aus dem Sinn. Der Leib war mit nassem Laub bedeckt. Das heißt, er wollte im nahen Wald – genau so, wie bereits manche andere vor ihm – im Morast Deckung suchen. Dort hatten ihn die Bluthunde aufgespürt. So bin ich zum Schluss gekommen, dass man ja nicht den Wald anpeilen sollte; hinter dem Verschlag nämlich, wo Vlado die Zementsäcke verwaltete, erblickte ich durch den Zaun Äcker. Der Verschlag und die Umgebung wurden nicht bewacht, nicht in den Streifengang einbezogen – von der Höhe der Baukräne war jedoch leicht zu beobachten, ob sich dort Verdächtige versteckten. Jetzt aber, wo die Arbeiter die Kräne nicht mehr bestiegen hatten, da wollten wir es probieren. Vlado war mit dem Plan sofort einverstanden. Und an einem schönen Morgen, an dem gleich am Arbeitsanfang die Sirenen Luftangriff meldeten, hob Vlado eine Planke aus dem Boden ... geschafft!
Bloß nicht in den Wald hinein. Es war doch klar: Man wird im Morast nach uns suchen ... während wir schön gemächlich einen Feldweg am Rande des Ackers nahmen. Die letzten tage waren schon warm genug gewesen, um die Schneepfützen verschwinden zu lassen; der herrliche Sonnenschein steigerte die Hochstimmung. Nach einer Stunde laufen ließen wir uns am Wegesrand bei einem kleinen Marterl nieder – und lachten und lachten!
Sirenengeheul drang zu den Ohren aus der Ferne: Na also, die zwei- und vierbeinigen Häscher sind am Werk. Also, nur kein Übermut! Da wir die Gegenrichtung eingeschlagen hatten, durften wir getrost, die westlicheren Waldungen betreten; Hauptsache, immer nur westwärts, den Amis entgegen. Wir haben die Siedlungen weit links liegen gelassen. Gottesglaube bringt Segen – wir konnten uns mit Hilfe der Kirchtürme prachtvoll orientieren. Unterwegs haben wir die Scheunen am Rande der Felder geplündert; fast überall haben wir Essbares gefunden; Übernachtungsmöglichkeiten sowieso. Was wir nirgendwo gefunden haben, das waren passende Kleidungsstücke, um die Pyjamas endlich los zu werden.
Trotz größter Vorsicht ergaben sich doch knifflige Situationen. Das erste Mal hatten wir noch Glück. Wir wanderten auf einem breiten Waldweg, als vor uns urplötzlich ein Zug von Wehrmachtssoldaten aufkreuzte, von einem Oberleutnant der Luftwaffe angeführt. Kein Zweifel, sie merkten sofort: Entsprungene KZler stehen vor ihnen. Vlado und der junge Budapester trugen zwar Zivilkleidung, Imre und ich waren die Pyjamas nicht losgeworden. Der Offizier rannte auf uns zu, umarmte uns und schrie vor Freude: „ist der Krieg zu Ende? Meine Mutter lebt in Wien, sie ist Halbjüdin – darf sie jetzt aus dem Keller?“ Wir mussten ihn leider enttäuschen. „Noch nicht – aber bald. Bis dahin möchte der Herr Oberleutnant Vorsicht walten lassen.“ Die Soldaten, als hätten sie nichts gesehen und gehört, zogen dann ruhig an uns vorbei.
Ob es an jenem Tag geschehen war oder einen Tag später: Wir haben eine prachtvolle, riesige Scheune gefunden. Da wollten wir übernachten – die schönen Heuballen waren so verlockend. Wir waren schon dabei, uns häuslich einzurichten, als zwischen den Heuballen schwarz Uniformierte mit Maschinenpistolen erschienen. „Halt! An die Wand! Hände hoch! Hosen fallen lassen!“
Vlado zeigte nicht dien geringste Angst. Er hat die Typen auf Serbisch angeredet: Was wollt ihr denn?“ Es waren Soldaten von der ukrainischen SS, sein brauchten dringend Zivilkleidung, um unterzutauchen. „Da seid ihr falsch!“ klärte Vlado sie auf. „Wollt ihr als flüchtige KZler abgeknallt werden? Macht euch lieber schnell aus dem Staub!“
Wieder Glück gehabt. Die Ukrainer waren schnell verduftet, ihre Waffen bleiben in der Scheune. Aber wir hatten kaum Zeit zum Aufatmen. Draußen vor der Scheune fielen Schüsse, und da hörten: „Kommt raus! Hände hoch! Ergebt euch!“ Ach, das war diesmal die richtige SS; sie hatten die Fahnenflüchtigen verfolgt. Vlado ergriff eine Maschinenpistole, stieß mit dem Stiefel das Scheunentor auf und ließ eine gehörige Salve in Richtung der Schreie los. Es hat gewirkt; sicherheitshalber haben wir die Schießerei noch fortgesetzt; die Kerle haben noch ziellos das Feuer erwidert – so habe ich einen Querschläger abbekommen – und sind in der Dunkelheit verschwunden. Immerhin, um einen weniger. Sollten wir den am nächsten Morgen beerdigen? Vlado konnte des Lachens nicht Herr werden. „Du hast ihn erledigt!“ „Lüge nicht“, sagte ich ihm, „siehst du denn nicht, dass ich das schwere Zeug nicht heben kann?“ Hauptsache wir haben unsere Ruhe gefunden.
Am nächsten Morgen ist ein Bauer vor der Scheune erschienen; er fuhr einen Traktor mit Anhänger. „Nicht schießen!“ schrie er, „ich will euch nur Gutes!“ So war es auch: Er schlug uns vor, auf seinen Hof zu kommen – die Amerikaner müssten bereits in der Nähe sein, wir könnten sie dort abwarten. (Der Ort hieß Poing, 20 Kilometer von München entfernt.)
Es war ein wunderbarer Hof, ein schönes Haus; die ganze Familie mit ihren Knechten hat uns herzlich aufgenommen. Nach einem herrlichen Mittagessen – was für eine Bouillion! – haben Vlado und der Junge Abschied genommen; sie brannten vor Ungeduld, sie wollten schnellstens in die Heimat zurück. Imre und ich haben es uns anders überlegt; wir wären nicht in der Lage gewesen, uns auf den Weg zu machen. Da hat die freundliche Bäuerin eine Wanne mit warmem Wasser in die Küche gestellt, Imre und mich der reihe nach hineingestellt und mit der Hausseife und Bürste regelrecht sauber geschrubbt. Wie war das arme Weib erschrocken, als sie unsere Körper sah! „Ihr habt doch keine Oberschenkel!“ Dann stellten wir uns auf die Waage. Das Ergebnis: 38 Kilo Lebendgewicht ...
Gerettet
Es kam, wie es kommen musste. Es fuhr ein Jeep auf den Hof, ein Major mit drei schwarz gebräunten Soldaten stieg aus und wollte partout Nazis finden. Imre sprach leidlich Englisch. (Das Gespräch begann ein wenig seltsam. „Do you speak English?“ fragte Imre den braven Major. „Noo – Emörikän!“ antwortete der in breitem Texanisch.) Nach dem Aufklärungsgespräch gab es Bescherung: Sie haben der braven Familie Unmengen von Zigaretten, Schokolade und Kaugummi überreicht. Der Major befahl Imre, nach Markt Schwaben zu übersiedeln: Dort konnte man Medizinstudenten mit Sprachkenntnissen gut gebrauchen. Imre ging auf den Vorschlag ein; ich wollte diese prachtvolle Gastfreundschaft noch ein paar Tage genießen.
Die Tage in Poing haben mir richtig gut getan. Das Dorf war nett, die Leute freundlich, und in der Gastwirtschaft hat man Bier noch archaisch, aus stiefelförmigen Glashumpen getrunken. Aber Imre ließ nicht locker; zum Schluss habe ich die lieben Leute verlassen – geistig war ich leider nicht mehr fähig, mir ihre Namen zu merken. Von Markt Schwaben habe ich lediglich eine mittelbare Erinnerung bewahrt. Ich hatte Zahnschmerzen bekommen. Aber es gab keinen Zahnarzt im Dorf: die Amerikaner haben mich (wenn ich mich recht erinnere) nach Rosenheim gefahren. Der Name des Arztes ist mir unvergesslich geblieben. Dr. Ihm hat mir eine Spritze verabreicht und schickte mich ins Wartezimmer. Ich aber musste eine Tür weiter, ins Klo. Ich schlug den Deckel auf: Auf der Innenseite des Deckels klebte eine Briefmarke ... mit dem Konterfei von Hitler ... und drum herum im schönsten Sütterlin: „Seht ihr ...-löcher, wen ihr gewählt habt!“
Und die allerletzte Erinnerung an Markt Schwaben: Es ging mir irgendwie komisch. Imre kam und meinte: „Du musst ins Krankenhaus.“ So wurde ich an jenem Abend mit dem Sanitätswagen nach München ins Schwabinger Krankenhaus gefahren.
Die Diagnose lautete: Flecktyphus. Und der tag, als dies geschah, war der 8. Juni 1945. Mein Geburtstag. Der Jahrestag ...
Das war’s.
München, Oktober-November 2009