Für das Erinnern
Er lebt heute in Tel Aviv, war lange Berufsschullehrer und besuchte am 9.9.1996 das Bunkergelände)
Siehe auch das Buch: Mordechai Hendrik Gidron: Trotzdem weitergelebt, Hartung-Gorre-Verlag Konstanz 2005
Ich habe von diesem Platz „Hauptbaustelle“ mehr schreckliche Sachen gehört als gesehen.
Als ich hierher kam, habe ich eine solche Einteilung bekommen, dass ich mit dem Transport bzw. der Arbeitsgruppe hergeführt wurde und sah plötzlich eine riesige Baustelle. Ich kannte mich überhaupt nicht aus. Ich habe viele Züge und Zuggleise gesehen. Die Betonmischmaschinen haben das Material von großen Kippern bekommen , Sand und Steine und den Zement haben die jüdischen Häftlinge auf dem Rücken heraufgetragen über ein oder zwei Stockwerke, ich weiß nicht wieviel Treppen das waren. Aber das war ein Riesenhochhaus. Und Hunderte Häftlinge haben in einer Reihe diese Zementsäcke geschleppt. Jeder mußte unten einen Sack nehmen, die Treppe heraufgehen und oben bei den Maschinen hat einer den Sack weggenommen und hineingeschüttet in die Mischmaschinen. Man hörte die Schreierei der Kapos und es herrschte eine schreckliche Atmosphäre. Zum Glück mußte ich nicht diese Zementsäcke schleppen , sondern ich habe eine Einteilung bekommen...
Von oben floss der Beton an der Verschalung entlang . Er wurde mit Zügen (Loren) antransportiert und herausgekippt. Der Beton fing an zu fließen Und dann mussten wir in einer Reihe stehen . Jeder hat eine Schaufel gehabt und wir mussten den Beton weiterschaufeln. Ich war 13 ½ Jahre alt, sehr alt schon (lacht).für eine solche Arbeit. Und ich war schon körperlich sehr schwach. Ich habe auch schon Durchfall gehabt, also mich sehr schwach gefühlt. Kalt war es schon ganz stark. Es war ungefähr Oktober 44, vielleicht Anfang November. Denn ich bin krank geworden und bin von Anfang Dezember schon nicht mehr herausgegangen zu den Arbeitsplätzen.
Zur Ernährung haben wir in der Frühe etwas Kaffee bekommen. Ich war im Waldlager. Zur Mittagszeit etwas Gemüse, Wasser und abends haben wir altes Brot bekommen mit einem Stück Wurst und etwas Margarine.
Manchmal in der Früh beim Frühappell hat man uns schon so abgeklopft, und gefragt: Hast du etwas? Im besten Fall hat man ihm gesagt: Leg das gleich wieder ab. Im schlimmsten Fall hat der auch schwere Prügel bekommen. ... Ich habe immer versucht nicht hinzusehen, was dort passierte. Das war schrecklich.
Das war so. 1944 - am 19. März - marschierte offiziell die deutsche Armee in Ungarn ein. Einen Tag früher, am 18. März habe ich Geburtstag gehabt, das heißt bei den Juden ist das der größte Geburtstag, wenn man 13 Jahre alt wird. Bar Mizwa. Nach diesem Bar-Mizwa-Fest, einen Tag danach waren wir besetzt von den deutschen Armee, obwohl in Ungarn auch früher schon ein faschistisches Regime war. Aber dann fingen die Plakatierungen bezüglich der Juden an. Dann mussten wir ins Getto und hernach wurden wir herausgeführt nach Auschwitz.
Ja. ich war die ganze Zeit der Meinung, das ich das sehr wohl überleben werden. ich habe aber nicht an die Möglichkeit gedacht, wie das gehen sollte. ich verstand das überhaupt nicht , in welch schlimmer Situation ich war. Wahrscheinlich war es so.
Das einzige Kleidungsstück, was man uns in Auschwitz gelassen hat, das waren die Schuhe. Aber diese Schuhe sind ganz schnell zugrunde gegangen. Ich erinnere mich, dass ich nach zwei drei Wochen Arbeit im Waldlager ich neue Schuhe „gefasst“ habe , weil meine schon ganz kaputt waren. Es waren Holzpantinen. Ich habe die Schuhe unter den Pritschen gelassen . ich habe vielleicht daran gedacht, dass ich sie vielleicht reparieren könnte, aber abends habe ich sie schon nicht mehr gefunden, die alten Schuhe von Zuhause und dann bleiben mir nur mehr diese Holzschuhe und die machten mir nach ein paar Tagen schon starke Fußwunden.
Gekleidet waren wir wie in Pyjamas, ganz dünn. Ich kann mich nicht erinnern, wie wir die Kälte ausgehalten haben. Es muss schrecklich kalt gewesen sein. Manchmal haben wir versucht leere Papiersäcke vom Zement zu benutzen. Wir haben sie gestohlen und wir haben versucht zwei oder drei Löcher hineinzumachen und sie anzuziehen auf dem Körper und dann haben wir die Häftlingsjacke gut zugemacht, dass man sie nicht sehen konnte. Aber wenn man jemand dabei erwischt hat, dann hat der schwere Prügel bekommen.
Jemand rutschte aus und hat die Schuhe verloren, dann hat er Prügel bekommen und wurde so gejagt bis zum Lager. Mancher konnte ankommen, andere hat man manchmal abgeschossen auf dem Weg... Es war nicht so wie auf einem normalen Arbeitsplatz, wo Arbeitsunfälle vorkommen und man gleich versorgt wird vom Roten Kreuz und ihn ins Hospital mitnimmt. So etwas gab es nicht.
Ich versuchte mich immer weit weg von solchen Aktionen zu halten. Wenn ich gehört habe, dass etwas dort oder dort geschieht, habe ich mich immer weit weg gehalten, denn das war auch gefährlich, das zu sehen. Manchmal hat der, der es gesehen hat, auch Prügel bekommen, weil er das nicht sehen sollte.
Einmal war im Waldlager, erinnere ich mich, war ein Appell mitten in der Nacht. Man hat uns aufgeweckt zum Appell, weil man uns sagte, dass jemand fehlt. Man hat ihn irgendwo gefunden und dann hat man ihn gebracht und totgeschlagen. Aber wen Sie mich fragen, ob ich genau gesehen habe, ob man ihn mit 20 oder 25 Prügelschlägen totgeschlagen hat, dann kann ich das nicht sagen. Kann sein, dass er schon nach zwei tot war oder er noch ein paar Prügel bekommen mußte, bis er tot war. Er war tot.
...
Was mir sicher geholfen hat, war, dass ich mich immer weiter weggestellt habe. Das war überhaupt eine Grundeinstellung (System), denn ich war so jung, nur groß, und wollte sagen, dass ich nicht 13 Jahre alt wäre, sondern 18 Jahre. Wo steht, man, dass man einerseits nicht zu jung aussieht und andererseits nicht zu nahe kommt, damit man erkennen kann, dass ich wirklich jung bin.
Wo steht man? Immer in der zweiten Reihe. Nie in der ersten Reihe. zweite Reihe, das bedeutet „Mitte“. Nicht zu weit und nicht zu nah.
Also, es ist mir sehr schwer zu verstehen, wie ich das überlebt habe. Und dann fragte ich mich immer: Wie konnte so etwas passieren? Trotzdem ich genug schlecht die deutsche Sprache spreche, aber als Kind habe ich eine deutsche Kultur bekommen, weil meine Mutter stammt aus dem Burgenland, an der österreichisch-ungarischen Grenze. Bis ich mit 6, 7 Jahren in die Schule kam, hat man bei mir zuhause deutsch gesprochen. Die ersten Geschichten z.B. „Hänsel und Gretel“ habe ich deutsch gehört und deutsch gelernt. Und wie konnte dieses Volk so etwas tun. Was überhaupt habe ich hier gesucht, als dreizehnjähriger Häftling? Wie komme ich hierher? Und nachher, als wir zurückkehrten nach Ungarn, wir fanden nicht unseren Weg. Ungarn hat uns verkauft. Wir waren ungarische Bürger. Wenn ich heute jemanden hassen müßte, wenn ich so fühle, dass ich jemanden hassen will, also wen hasse ich mehr? Die Deutschen oder die Ungarn? Die Ungarn. Weil ich war ein ungarischer Bürger. Die Deutschen kamen nach Ungarn und haben alle Juden genommen, aber warum hat das Ungarn zugelassen. Warum hat das Ungarn mitgemacht?
Ende gut - alles gut. Wir fuhren nach Israel. Haben dort schwer 50 Jahre durchgemacht. Dort ist auch nicht das Leben ein Vergnügen. Aber trotzdem haben wir eine Familie aufgebaut. Die Kinder haben keine Großeltern und die haben keine große Verwandtschaft. Das ist der Holocaust. Das ist die Vernichtung. Das ist ein Fall, dass ich nicht vernichtet wurde, bzw., dass meine Frau nicht vernichtet wurde. Das sind private Fälle. Im großen und ganzen ist die Vernichtung gelungen.
Ja. Die Vernichtung ist gelungen auch prozentual, weil eine große Menge von Leuten wurden vernichtet. Die, solche wie ich, die das überlebten und gründeten Familien haben auch noch die Probleme der Vernichtung, weil die Kinder haben fast überhaupt keine Verwandten, keine Großmütter, Großväter . Die Familien sind sehr klein, sehr kompakt. Und die Kinder fragen: Warum ist das so? Obwohl die das historisch wissen. Aber psychologisch fehlt hier etwas sehr Großes im Leben der Kinder.
Wir haben Familien gegründet, aber wir konnten nicht wieder gründen die Großmütter und die Großväter , die große Familie, was normalerweise sein müsste. Unsere Kinder haben sehr kleine Familien. Wir hatten überhaupt, als die Kinder jünger und kleiner waren, wir hatten immer Probleme damit und fragten uns: Erzählen wir davon oder erzählen wir nichts. Welche Teile soll man erzählen? Was wird das für einen Eindruck bei den Kindern hinterlassen? Kann das schaden? Kann das helfen in der Erziehung? Wir haben keine Antworten für diese Sachen. Die Zeit wird vielleicht eine Lösung für diese Probleme bringen. Aber vorläufig ist es so, dass die Familien sehr klein sind und irgendwo steht immer das Vernichtungserleben im Hintergrund.
Wenn man solche Sachen überlebt, stärkt das den Menschen vielleicht. Ich weiß nicht. Aber das sollte nicht so sein. Stärkung sollte man nicht bekommen von Kriegen und nicht von schrecklichen Sachen.
Man kommt nicht zurecht. Es gibt keine Antwort. Ich meine, dass man das Leben spontan führen muss. Es gibt viele Leute, bei uns Israel überhaupt, die nach dem Holocaust psychisch krank sind. Ich meine, dass ich nicht psychisch krank bin. Ich hoffe. Und ich versuche das Leben so zu führen, wie ich es für normal halte. Aber irgendwo wissen wir, dass es nicht normal ist.
Ich habe eine gemischte Meinung. Einerseits sage ich: Solche schreckliche Sachen, die passiert sind, vielleicht müsste man sie zwar nicht vergessen, aber hier etwas Schönes bauen. Was wir hier sehen, das ist nicht schön. Andererseits, wie könnte man das machen, dass mit Hilfe von solchen Dokumentationen solche Dinge nicht noch einmal vorkommen in der Geschichte. Ich weiß es nicht. Deutschland ist nicht mein Land. ich lebe nicht hier. Ich kann nicht sagen, was man hier tun sollte. Aber dass hier überhaupt keine Schrift findet, dass hier bis zum Tod gearbeitet wurde, so und so viel Tausend Häftlinge, in der Hauptsache Juden, hier gestorben sind, das ist nicht richtig. Das waren auch keine deutsche Juden. Das waren Juden aus Litauen, Ungarn, Frankreich . Man hat die hergeschleppt. Eine Tafel sollte wenigstens hier stehen.
...
In Auschwitz wurden so viele Juden vergast bzw. vernichtet. Und man fragt: Waren das 5,6 oder 6,5 Millionen. Was ist der Unterschied?
Also wir sehen hier ein Denkmal von einem ehemaligen Herrn, ein Hauptlehrer, der wahrscheinlich hier gestorben ist. Das ist eine Erinnerungstafel . Da könnte ich mich fragen: Wo sind die Tafeln von den Tausenden Häftlingen, die hier in schrecklichen Verhältnissen starben. Wir sehen hierzu keine einzige Tafel. Warum das so ist, ist schwer zu verstehen. Ich möchte mich nicht da reinmischen. Ich bin .. ich gehöre nicht hierher. Ich wurde hergeschleppt, hertransportiert als ein Kind, aus dem einfachen Grund, dass ich ein Jude bin. Es wurde programmiert, dass ich hier sterben soll mit den anderen Tausenden. Aber ich starb nicht. Aber für die Tausende, die hier starben, fehlt vielleicht eine kleine Tafel.
Meine Mutter stammt vom Burgenland und zuhause sprach man mit mir Deutsch bis ich sechs Jahre alt war. Die ersten Geschichten, Hänschen und Gretchen und alle Kindergeschichten habe ich in der deutschen Sprache erfaßt. Ich hatte etwas...
Zuhause sprach man mit mir deutsch. Kindermädchen habe ich deutsch erfaßt. Da könnte ich mich fragen: Die deutsche Kultur in Europa war die Spitzenkultur. Wie konnte das uns passieren von den Deutschen. Eine Antwort gibt es hier nicht. Wenn ich ein Volk hassen müßte, dann es ist mir schwer. Überhaupt fällt mir hassen schwer. Aber ehrlich gesagt, wenn ich hassen müßte, dann würde ich mehr die Ungarn hassen als die Deutschen, denn ich war ein ungarischer Bürger. Ich lebte dort. Ich bin geboren in Ungarn . Und auf einmal steckte man mich hierher. Was habe ich hier zu tun gehabt. Wegen einer einzigen Sache. Eine einzige Schuld habe ich gehabt: Ich war ein Jude. Was kann man zu einer solchen Sache sagen? Vielleicht haben wir ein psychologisches Problem, weil es für uns schwer ist, zu hassen. Vielleicht würde es leichter sein, wenn wir hassen könnten.
...Es ist schwer, ein ganzes Leben zu hassen. Es ist schwer.
Nach dem Krieg sind wir ungefähr noch einen Monat hier gewesen. . Ein bisschen erholen und dann sind wir zurückgefahren nach Ungarn. Die Wiedereingliederung in Ungarn war sehr schlecht, sehr schwer. Wir suchten einen Ausweg, wo wir hingehen konnten. Wir fanden unseren Platz nicht in Europa.
…Wir spürten nicht, dass wir dorthin gehören, zu dem Ort, oder zu einigen Orten in Europa. Wir spürten, dass wir dort keinen Platz haben. Psychologisch.
Ich weiß es nicht. Ich glaube, weil ich so jung gewesen bin, als das geschehen ist, 13, 14 Jahre alt, dass dieser Abbruch ... für uns so plötzlich kam, dass wir in der Welt standen , allein, mit den fürchterlichen Erfahrungen. Das hat sich nicht wieder normal aufgelöst wie heute bei einem Jugendlichen. Nur viele, viele Jahre später fingen wir an überhaupt zu meinen oder zu denken, wie wir das überlebt hatten und wie könnten wir uns wieder normal entwickeln.
Einwurf Frau Ghidron: Wegen des Lebens, das weitergehen mußte, - Essen, Trinken usw. - ist diese Erfahrung zurückgedrängt worden und in die tieferen Schichten verdrängt worden. Und wenn man diese damaligen Geschehnisse heute verstehen will, dann ist das heute sehr schwer.