Für das Erinnern
In den ganzen sechs Jahre, in denen ich im Lager war, waren Freunde sehr wichtig. Es gab ungezählte Situationen, wo man durch jemand gewarnt wurde oder wo einem geholfen wurde.
Ich könnte Ihnen da was, was mit Dachau/Mühldorf nichts zu tun hat, erzählen. Ich war in Auschwitz an einer doppelseitigen Lungenentzündung erkrankt und war im Krankenbau. Mitten in der Nacht - ich hatte hohes Fieber - kam der Blockälteste, ein Mithäftling, und sagte: „Du musst sofort raus.“ Ich konnte nicht einmal auf meinen Füßen stehen, war völlig abgemagert auf 40 Kilo. Und dann hat er mich aus dem Krankenbau entlassen, weil frühmorgens eine Vergasung bevorstand. Das hatte ich einem anderen zu verdanken, weil ein anderer da für mich interveniert hatte bei ihm, der mich kannte und der wusste, dass ich schon sehr viele Jahre im Lager war und so hat er mich rausgeholt. Am nächsten Tag musste alles wieder zum Appell, musste draußen sein und normal theoretisch zur Arbeit gehen. Dazu war ich natürlich nicht in der Lage mit hohem Fieber, mit einer doppelseitigen nicht ausgeheilten Lungenentzündung. Das war eine Situation, wo man Freunde brauchte. Ich habe dann auch die Möglichkeit gehabt, dadurch, dass ich den Lagerältesten, einen Berufsverbrecher mit einem grünen Winkel ansprach, der sich sonst von niemandem ansprechen ließ, und hab ihm meinen Zustand ganz kurz geschildert und daraufhin hat er gesagt: „ Melde dich in der Schneiderei und sage, ich schick dich und dort wirst du arbeiten.“ Und das hab ich auch getan. Ich bin in die Schneiderei gegangen und habe von da an als Schneider gearbeitet, obwohl ich in meinem Leben noch nie eine Nadel eingefädelt hatte. Und mit einem Faden wusste ich überhaupt nicht, was ich damit machen sollte. So blieb ich da Monate und erholte mich, weil ich ja dann immer im Warmen war und nicht draußen sein brauchte.
Man war jeden Tag Hunderten Gefahren ausgesetzt und wenn eine Sache nur schief ging, wenn man sozusagen eine Niete zog, dann war das Leben damit beendet. Man musste immer das richtige Los ziehen, um das richtige im richtigen Moment zu machen, denn ein einziger Fehltritt bedeutete das Ende.
Diese Gefahr bestand täglich. Man brauchte ja nur irgendeinem missfallen, einem Posten oder einem SS-Mann, dann war das Leben damit beendet.
Ich hatte einen Kumpel, mit dem ich mich einmal angefreundet habe, in Sachsenhausen noch. Und auch da war eine Situation, wo ich Hilfe brauchte. In Sachsenhausen gab es ein Kommando, das war am Kanal in Oranienburg. Das Kommando war ein absolutes Todeskommando. Wer zufällig eingeteilt wurde, der konnte sich von diesem Leben verabschieden. Es kamen kaum welche zurück von diesem Kommando an einem einzigen Arbeitstag. Es wurde Zement getragen, vom Kähnen ausgeladen ans Ufer. Und da stand SS ...
Wenn das nicht schnell genug ging, dann wurden die Leute geschlagen und stürzten auf die Böschung des Kanals und das war das Ende. Ich bin auch einmal zu diesem Kommando gekommen und bin ein oder zwei Tage dabei gewesen und hab das kaum überstanden...
Ich war damals noch sehr gut auf den Beinen und dann habe ich meinem Kumpel im Lager das gesagt und er hat gesagt: „Hör zu, ich regle das.“
Der Kapo in diesem Kommando war auch ein Berufsverbrecher, also einer mit grünem Winkel. Den hat er angesprochen und hat ihm gesagt, dass er mich nicht mitnehmen solle, wenn ich eingeteilt werde. Und so war’s am nächsten Tag und an den folgenden Tagen. Ich hab mich da angestellt, denn ich war zu diesem Kommando eingeteilt. Die Zahl musste voll sein, wenn abmarschiert wurde. Aber immer kam der Kapo zu mir und sagte: „Dich nehme ich nicht mit. “Und so bin ich der Sache entgangen. Das war nur ein Beispiel für Hilfe im Lager, die man haben musste. Alleine war man verloren. So half schon einer dem anderen, wenn man ihn kannte oder wenn man befreundet war.
„Über zehn Tage bei übermenschlichen Strapazen liegen hinter mir. Wir wurden aus Warschau evakuiert, nachdem der Vormarsch der russischen Truppen bis in bedrohliche Nähe der polnischen Hauptstadt vorgetragen war. Über 4000 Häftlinge fast aller europäischen Nationen marschierten einen Schreckensmarsch, der seitens der begleitenden SS an begangenen Grausamkeiten nicht zu überbieten war. Unsere Reihen wurden entsprechend stark gelichtet und nur ein spärlicher Rest kam lebend in Dachau an. Unsere Ankunft, das war am 7. August 1944 - war scheinbar avisiert. Der ganze Apparat an Menschen, der zur Aufnahme von einigen hundert Häftlingszugängen nötig ist, war auf den Beinen. Es war gegen 5 Uhr morgens. Viele hundert Liter heißen Kaffees standen in Kübeln bereit für uns. Dachau war sicher an einiges gewöhnt, aber unsere kleine Truppe erregte doch einiges Aufsehen im Lager. Viele Häftlinge umstanden uns auf dem Appellplatz und fragten uns aus. Immer die üblichen Fragen nach der Ankunft: Woher kommt ihr?. Wie lange seid ihr schon im Lager?. Nationalität? usw.
Man sah uns sicher an, dass wir einige schreckliche Tage hinter uns hatten. Die meisten von uns hatten keine Schuhe mehr. Nur einige von uns führten etwas mit, was eventuell früher einmal ein paar Schuhe gewesen sein konnten. Verdreckt und dementsprechend verlaust, viele Tage ohne Wasser und ohne Nahrungsmittel, bis zum äußersten erschöpft standen oder lagen wir auf dem asphaltierten Appellplatz. Die Formalitäten (Aufnahmeformulare ausfüllen)waren verhältnismäßig schnell erledigt und dann ging es endlich unter die erlösende heiße Dusche. Alles wurde uns weggenommen, um keine Läuse in das Lager einzuschleppen. Wir wurden sauber eingekleidet und in die verschiedenen Blöcke geführt.
Wir waren nach den zehn Tagen der Überstellung nach Dachau alle in einem sehr schlechten Zustand. Die Reaktion darauf kamen jetzt erst, als wir praktisch ein bisschen zur Ruhe kamen.
Wir erfuhren schnell, dass viele Gefangene hier im Hauptlager ohne Arbeit waren, aber dass in den Nebenlagern von Dachau Arbeitskräfte gebraucht wurden. Und das hat sich auch bestätigt. 1500 arbeitsfähige Häftlinge wurden ausgesucht und sollten nach Mühldorf in Oberbayern, etwa 70 Kilometer von Dachau entfernt transportiert werden. Unter diesen 1500 war auch ich. Wir wurden in normalen Personenwagen ganz bequem nach dort gebracht. Keiner hatte eine Vorstellung, was uns dort erwartete. Die Meinungen waren wie immer bei solchen Dingen sehr geteilt. Wir verließen de Waggons und mussten ungefähr eine halbe Stunde marschieren. Auf einer großen Wiese, die einerseits von einer Chaussee und andererseits von einem Wald umsäumt wurde, machten wir halt. Inmitten der Wiese waren einige große Militärzelte aufgestellt, um die wir einige Männer und auch Frauen in Häftlingskleidung hantieren sahen. Ich war mir noch nicht im Klaren, ob das schon das Lager war. Aber ich wurde auch darüber schnell aufgeklärt: Diese Zelte waren eine transportable Desinfektionsanlage, wie sie auch für das deutsche Militär verwendet wurde. Wir wurden aufgestellt und genauestens abgezählt.
Man eröffnete uns dann, dass wir hier an Ort und Stelle noch einmal desinfiziert würden. Die Abfertigung ging leider nur sehr langsam vor sich, so dass wir gezwungen waren, die Nacht unter freiem Himmel auf der Wiese zu verbringen. Kälte und Nässe machte sich bemerkbar, so dass sich ein beträchtlicher Teil meiner Kameraden die verschiedensten Erkältungskrankheiten zuzog. Keiner von uns hatte eine Decke oder die Kraft, die ganze Nacht stehend zu verbringen. Man streckte sich also wahllos auf der feuchten Wiese aus und schlief auch irgendwie ein. Es ging schon bald auf Mittag des nächsten Tages, als auch die letzten endlich abgefertigt waren und wieder setzte sich der Zug in Bewegung. Nach etwa drei Kilometer Fußmarsch kamen wir an das Ziel, das inmitten eines ziemlich großen Waldes lag. Die SS hatte sich beim Anlegen dieses neuen Lagers nicht allzu viel Arbeit gemacht. Ein Viereck etwa 1 Kilometer im Quadrat war abgezäunt durch einen Doppelzaun, der uns sattsam bekannt war und der allgemein elektrisch geladen war. Innerhalb dieses Vierecks war der Wald nicht etwa abgeholzt, sondern lag beinahe unberührt da. Bis auf die aufgestellten sogenannten Finnenzelte, die im Abstand von etwa 10 bis 15 Meter scheinbar wahllos - jede schematische Anordnung außer acht lassend - dastanden.
Um das Lager in den üblichen Abständen hohe Holztürme, die Postenstände der SS, wie ich sie aus den vorhergehenden Lagern kannte. Das ganze machte jedenfalls einen recht primitiven Eindruck, Seitlich innerhalb des Lagers einige feste Holzbaracken, die, so nahm ich richtig an, die Häftlingsküche, Magazine für Bekleidung und Werkzeug beherbergen sollten. Wir marschierten durch das hölzerne Tor. Die SS hatte inzwischen ihre Posten bezogen. Ein Führungshäftling, ein reichsdeutscher politischer Schutzhäftling nahm uns in Empfang, hielt eine kleine Rede, die er wahrscheinlich seit Tagen auswendig gelernt hatte: „Ihr seid jetzt in Mühldorf/Waldlager, einem Außenkommando des Stammlagers Dachau. Hier muss produktive Arbeit geleistet werden und jeder Versuch, durch Faulheit usw. zu sabotieren wird strengstens geahndet werden. Es waren unter den Häftlinge, die nicht den ersten Tag im Lager waren und die wussten, dass darauf unweigerlich der Tod stand.“ Ich hatte diese Reden in den letzten fünf Jahren so oft gehört, dass ich kaum Anteil nahm an dem, was dort vorn gepredigt wurde. Endlich kam Bewegung in die vorderen Reihen. Der Befehl zum Wegtreten war gegeben worden. Wohin allerdings, war nicht gesagt worden. Aber da es sich um unseren Aufenthaltsort für die nächste Zeit handelte, machte man sich schnellstens auf zur Erkundung des Lagers. Ich machte mich als erstes auf zu einzelnen Finnenzelten. Es war klar, dass die als Schlafraum für uns vorgesehen waren, und somit mein allergrößtes Interesse beanspruchten. Die Zelte waren rund, in der Mitte etwa so hoch, dass ein erwachsener Mann darin aufrecht stehen konnte. Seitwärts fielen sie erheblich ab. Der Durchmesser war etwa sieben Meter. Die Bauart war sehr leicht, aus einem Holz , das sehr dem Sperrholz ähnelte. Ich zweifelte bald daran, ob diese hundertprozent wasserdicht waren. Leider erwiesen sich meine Bedenken in der Folgezeit als richtig.
Irgendwelche Einrichtungsgegenstände- ich dachte vorsichtig an Betten oder Strohsäcke oder Wolldecken waren leider nicht vorhanden. Lüftung gab es nur durch die offenstehende Tür. Bei der starken Belegung dieser Zelte hatte man absolut die Chance darin gemütlich zu ersticken. Ein kleines Fenster - 30 mal 30 - war zwar vorhanden, ließ sich aber nicht öffnen. Auch die Beleuchtung war sehr mangelhaft, denn dieser einzige Lichtspender hatte eine Milchglasscheibe, die nur allzu schwer etwas Licht eindringen ließ und nichts von dem herrlichen Sommerwetter ahnen ließ. Einige Zelte lagen in kleinen Waldvertiefungen, so dass bald der Gedanke in mir aufkam, was da wohl bei Regen eintreten würde. Die spätere Zeit gab mir bedingungslos recht. Einige Zelte schwammen im wahrsten Sinne des Wortes weg.
Ich setzte meine Erkundungen fort und kam so in eine der festen Holzbaracken, die so stabil gebaut waren. 300-Liter- und 500-Liter-Kochkessel standen wohl da, waren aber noch nicht angeschlossen. Kanalisation und Elektroleitungen waren überhaupt nicht vorhanden. Es gab für das ganze Lager nicht eine Latrine oder Waschraum. So überraschte es mich keineswegs, von Kameraden, die schon etwas weiter in ihrer Schleife gekommen waren, zu erfahren, dass es im ganzen Lager nicht eine Wasserleitung oder so etwas wie Brunnen gab, aus denen man zu etwas Wasser kommen könnte. Das war natürlich der Höhepunkt der Katastrophe: 1500 Menschen ohne Wasser. Womit würde gekocht werden?
Ich konnte es fast nicht glauben und gab mich schon optimistischen Illusionen hin, dass wir wahrscheinlich die Brunnen und Wasserleitungen übersehen hätten. Aber es war nur allzu wahr. In Gedanken sehnte ich mich schon an die Lager vergangener Tage - Sachsenhausen, Auschwitz, Warschau - zurück. Dort gab es wenigstens Wasser in genügender Menge.
Es fiel mir ferner auf, dass es in diesem Waldlager keinen Platz gab, der irgendwie einem Appellplatz ähnelte. Es gab wohl einen kleinen Platz seitlich am Zaun liegend, der abgeholzt war, in dessen Boden aber die Stumpen ehemals bayerischer Baumriesen fest verwurzelt waren. Es würde eine schwere Arbeit kosten, diesen Platz für diesen Zweck fertig zu stellen.“
Es gab hernach Wasser, aber nicht in den Blocks. In den Finnenzelten, da gab’s kein Wasser. Draußen gab es Wasser. Wenn ich das jetzt lese, dann ist das so als wenn ich’s nicht erlebt hätte, weil ich das gar nicht mehr in Erinnerung habe. ...
Ich habe Hunderte von Freunden in den Welt und wenn ich die wieder treffe, dann erinnert sich jeder an etwas anderes und wundert sich, dass sich der Freund an ganz etwas anderes erinnert. Das ist genauso mit dem einen Häftling, den wir überstellt haben nach Dachau, weil er für uns nicht brauchbar war. Ich weiß aber seinen Namen nicht mehr. Das war für uns ein sehr gefährlicher Mann. Ich weiß aber seinen Namen nicht mehr. Das könnte Rohr...
Ich weiß nicht, wer das war. Den haben sie uns geschickt als Lagerältesten. Das war der höchste Funktionshäftling im Lager..
Wir hatten einen, den haben wir - ich schätze das war 1944 Anfang 45. Da hab ich dem Hauptmann das erklärt... der war mir sehr... ich weiß nicht, warum ich bei dem Mann so eine Chance hatte. Aber der hat mir zugehört und hat ihn dann ohne weiteres überstellt wieder nach Dachau zurück, weil er für das Waldlager nicht geeignet ist. Das war für uns ‘ne...
Denn wenn der das in die Hand genommen hätte, das hätte andere Leute nachgezogen wahrscheinlich und dann wäre da ein Stamm entstanden, wo man hätte nichts mehr machen können, wo man keinem Menschen hätte helfen können, wenn diese Leute sozusagen an die macht gekommen wären... Das habe ich in anderen Lagern erlebt.
Häftlinge in führenden Positionen hatten die Möglichkeit, vieles abzuwenden, und vieles abzubiegen und man hätte viele Menschen zumindest retten können, dass sie weiterleben. Was dann geschieht, weiß man nicht. Und das war das Entscheidende, was ich nur in diesem Lager hatte. In den anderen Lagern haben Leute das Sagen gehabt. In Warschau gab es das auch, dass man da helfen konnte, und man konnte viel machen. Das war natürlich immer riskant. Das eigene Leben durfte dann keine Rolle spielen, wenn man da etwas tat. Das war alles außerhalb der Legalität. Man hat’s eben riskiert und das Leben war einem nicht mehr so wichtig, dass man sagte... Aber andere haben wieder versucht, sich zu profilieren, und glaubten, der SS was Gutes zu tun, wenn sie selbst das Töten übernehmen oder das Totschlagen übernehmen. Und das waren Mithäftlinge. Ich habe das in allen Lagern erlebt.
„Wenig später hallte wirklich der Ruf „Alles antreten!“ durch den Wald und lenkte meine Schritte zum Appellplatz. In einem geordneten Lager muss bei Gong alles beinahe in einer Minute stehen. Hier im Wald dauerte es annähernd eine halbe Stunde, bis endlich alles stand. Ein Offizier in Wehrmachtsuniform eröffnete in kurzer Form, dass das Lager heute noch keineswegs dem entspreche, was hier geplant ist. Es ist alles noch im Aufbau und wir würden hier nach Ablauf dieser vierwöchigen Quarantäne zur Arbeit eingesetzt werden. Und zwar zur produktiven Arbeit für die Rüstung der deutschen Wehrmacht. In der Wartezeit liegt es vor allem an uns, das Lager in jeder Beziehung zu vervollkommnen. Er verlangte von uns vor allem Disziplin, Gehorsam, Fleiß und Sauberkeit. In Gedanken vollende ich „...und Liebe zum Vaterland“( ein Spruch im KZ Sachsenhausen), wie ich es in allen anderen Lagern angeschrieben gesehen hatte. Dann gab er noch bekannt, dass durch einen Regiefehler wir hier, im Waldlager einige Tage zu früh angekommen sind und so die Küche noch nicht ganz fertiggestellt ist. Wir müssten deshalb die ersten 2-3 Tage auf warmes Essen verzichten. Er würde versuchen dieses Manko durch eine Erhöhung der Brotration auszugleichen. Anschließend wurde wirklich Brot und Margarine verteilt und es war jedem einzelnen überlassen, sofort schlafen zu gehen. Wie bereits erwähnt gab es weder Strohsäcke, noch Decken, von Betten ganz zu schweigen. Da wir in der vorigen Nacht auf der Wiese genügend Erfahrung gesammelt hatten, somit wussten, dass die Nacht empfindlich kühl war. haben wir uns eng aneinandergeschmiegt in einzelne Zelte. An Sachen auszuziehen war nicht zu denken, da der Zeltholzfußboden ziemlich feucht war. Ich rechnete schon im stillen aus, wann die ersten Läuse sich unter diesen Umständen im Lager breitmachen würden. Die erste Nacht im Waldlager war nicht angenehm und nur der großen Erschöpfung unserer Leute war es zu verdanken, wenn man wirklich einige Stunden Schlaf fand.
Als erstes wurde anschließend versucht Handwerker, Tischler, Maler, Schlosser herauszusuchen, die das Lager herrichten sollten: Latrinen bauen, Elektrizität verlegen. Ich muss hier einfügen, dass der Handwerksberuf im Lager sehr beliebt war, da er die dort beschäftigten Häftlinge fernhielt von jeder schweren Arbeit, wie Loren schieben, schaufeln, Zementtragen usw. Wie nicht anders zu erwarten war, meldete sich fast jeder als gelernter Handwerker, obwohl er noch nie eine Zange oder einen Hammer in der Hand gehalten hatte. Es gab ein zügelloses Durcheinander und wir haben bei dem anwesenden Lagerkommandanten sicher keine große Ehre eingelegt.
Nur dem Umstand, dass die Handwerker sofort zur Arbeit eingesetzt wurden, während die anderen noch einige Wochen Ruhe hätten, war es zu verdanken, dass die Ordnung einigermaßen wiederhergestellt werden konnte.
Die Tage der Ruhe wurden jedoch bald unterbrochen. Eines Morgens heißt es, dass die Quarantäne beendet ist und wir alle eingesetzt würden. Mit Ausnahme der bereits eingesetzten Handwerker, müssten alle auf Außenarbeit gehen. In Sekunden entstand ein Chaos. Jeder versuchte noch in den Handwerkskolonnen unterzuschlüpfen, denn Außenarbeit heißt unzweifelhaft Loren fahren, Sand schaufeln und tragen, Karren schieben, Ziegeln, Zement und vieles andere. Wer sich schon in das Unvermeidliche schickte, wollte wenigstens Kapo oder Vorarbeiter sein. Die SS musste erst einige Schreckschüsse abgeben, um dem Durcheinander Herr zu werden. Kommandos wurden aufgerufen: Hauptbaustelle, Bahnhof, Abladekommandos und dergleichen. Bis dato nie Gehörtes. Ich war im Moment sehr unschlüssig. Die Zeit noch etwas zu unternehmen war sehr beschränkt. Das Chaos übertraf sicher alles, was ich im Lager kennengelernt hatte.
Es wurde ausgerufen, dass ein Häftling für die Schreibstube gebraucht würde und der in Deutsch in Wort und Schrift perfekt ist und Druckschrift schreiben kann und Maschinenschreiben. Da hab ich mich gemeldet. Ein SS-Unteroffizier hat mich begutachtet. Ich glaube nicht, dass ich bei dieser ersten Musterung gut abgeschnitten habe, denn er machte ein zweifelhaftes Gesicht, als er meine schäbige Kluft näher sah.
Er ließ mich eintreten, nahm Platz und fragte mich nach allen Regeln der Kunst aus. Ich musste verschiedentlich zu lügen ergreifen - was mir übrigens nicht schwer fiel- um mich gut aus der Affäre zu ziehen. Den Ausschlag gab allerdings erst die Schriftprobe. Nicht übertrieben: Er war begeistert. Ich hatte schon lange keinen Federhalter mehr in der Hand gehabt und schrieb meines Erachtens ziemlich verkrampft. Aber er war doch beeindruckt. Er achtete bei der folgenden Prüfung an der Schreibmaschine kaum noch auf die Fehler, die ich machte, und er hat mich sofort angenommen.
Der Unteroffizier war der Chef der Schreibstube, ein Mann im Alter von etwa 40 Jahren.
Haben Sie in der SS-Stube als Schreiber die normale Häftlingskleidung angehabt?
Ja.
F: Und wenn sie jetzt rausgegangen sind, nach Landshut zum Beispiel...
Dann habe ich eine andere Kleidung bekommen.
Und ansonsten sind sie überallhin in Häftlingskleidung..
Genau wie jeder andere. Ich hatte sogar nachher, 1945 ... Die Häftlinge wurden doch kahlgeschoren. 1945 hat der Hauptmann, der Lagerführer, einigen erlaubt, dass wir uns die Haare wachsen lassen durften. Auch der Eisler hat sie wachsen lassen dürfen. Kurz, aber doch normal, also nicht auffallend. Und das war mir an und für sich recht, denn ich hatte ja immer noch die Flucht in Gedanken. Und mit Haaren wäre es ein bisschen leichter geworden eventuell durch irgendwelche Maschen zu schlüpfen.
„Wir waren kaum drei Monate im Waldlager, da hatten wir täglich bei einer Lagerstärke von ca. 2000 Häftlingen ca. 5-600 Kranke. Es bedurfte der ganzen Kunst und Routine der alten Häftlinge, um beinahe aus dem Nichts etwas zu schaffen, was einem Krankenrevier ähnlich sein sollte. Es mangelte an Medikamenten, Verbandsstoffen und Instrumenten. Selbst Räumlichkeiten waren für diesen Zweck nicht vorhanden. Bis alles einigermaßen in Ordnung war, hatten wir schon eine beträchtliche Anzahl Tote zu beklagen, die ohne weiteres gerettet worden wären, wenn man alles hätte für sie tun können. Es war lediglich den Kameraden im Krankenrevier zu verdanken, dass die Katastrophe nicht größere Ausmaße annahm und die Krankenzahl von 5-600 konstant gehalten werden konnte. Auf der anderen Seite trug der SS-Arbeitseinsatz dem nicht Rechnung, sondern verlangte von unserem Lager eine Einsatzstärke, die wir unmöglich halten konnten. So war es täglich an der Tagesordnung, dass Kranke, Invalide mit verbundenen Händen oder Beinen und Schwache mit einem Körpergewicht von kaum 40 Kilo auf die Hauptbaustelle mit geschleift wurden, nur um die Einsatzsollstärke zu erreichen. Dabei legten die einzelnen Baufirmen gar keinen Wert auf diese Menschen und weigerten sich auch, nicht voll einsatzfähige Häftlinge dem Lager anzurechnen. Man versuchte dann auf eine andere Art den Einsatz zu steigern, indem alle Kranken auf halbe Ration gesetzt wurden. Dies hatte vollen Erfolg: nämlich Tote. Der Kommandant und sein Stellvertreter waren zwar ganz auf unserer Seite, waren aber den Befehlen des Hauptlagers gegenüber völlig machtlos.
In diese Situation platzte einige Tage später die Nachricht, dass der 1. Lagerarzt des KL Dachau hier eine Inspektion machen würde. Die SS-Führung dachte sich sicher nichts Nachteiliges davon, dachte vielleicht noch, dass man dabei einige Verbesserungen für unsere Lager herausschlagen könnte. Ich war jedoch anderer Ansicht, da ich diese Art der Inspektion genügend ausgekostet hatte. Inspektion eines Arztes war im KZ ein Begriff. Jeder Häftling kannte ihn genau. Es hieß die Spreu vom Weizen zu trennen und ins Krematorium zu schicken. Ich wusste, dass das in diesem Falle auch nichts anderes heißen konnte.
Am nächsten Tag ist er da: SS-Hauptsturmführer Schmidt. Groß, hager, im Regenmantel, Motorradstiefel, die Schutzbrille immer vor den Augen, als ob er sich tarnen will. Es ist Sonntag und die Arbeitskommandos waren ausnahmsweise nicht eingesetzt. Alles tritt geschlossen auf dem Appellplatz an. Tische werden im Freien aufgestellt, um eine Barriere zu ersetzen. Dann kommt er im Gefolge unseres Kommandanten, eines Stellvertreters und eines Rapportführers, ein SS-Unteroffizier. der Appellplatz ist hermetisch abgesperrt durch SS-Posten. Ich stehe an einem der Tische, bewaffnet laut Befehl des Kommandanten mit Papier und Bleistift, desgleichen unserer Rapportschreiber (Eisler). Nichts Gutes verheißt es. Nummern aufschreiben, Nummern, die ins Gas geschickt werden. Keine angenehme Aufgabe für einen Häftling. Aber es ist doch ein Glück im Unglück, dass man uns soweit ins Vertrauen zieht und uns dieses Aufschreiben überlässt. Auf diese Art ist schon Vieles verhindert worden und so nimmt es auch diesmal seinen Lauf.
Mit den Tischen hat man eine Sperre errichtet, an denen auch der Lagerarzt steht. Jeder Häftling muss dort vorbei. Der Lagerarzt hat die Möglichkeit, den Häftling nach der einen oder anderen Seite zu schicken. Wer dort vorbei muss, ist praktisch zum Tode verurteilt. „Rechts“ kann ungehindert passieren, sich anziehen und verschwinden aus der Gefahrenzone. Trotzdem es Anfang Dezember ist kommt der Befehl, dass alle sich sofort nackt ausziehen und einer nach dem anderen durch die Sperre muss. Keiner hat die Chance, dem zu entgehen. Jeder weiß, dass es jetzt von seiner körperlichen Kondition abhängt, ob er am Leben bleibt oder nicht. Die ersten kommen.
Ich muss hier einfügen, dass ich vor Beginn der Aktion mit dem Rapportschreiber vereinbart hatte, dass wir als Schreibmaterial dünne Pappe benützen werden, und auf jeder Seite höchstens 10 Nummern notieren werden. Dies hat den Vorteil, dass man unter Umständen einige Pappen verschwinden lassen kann, ohne aufzufallen. Schreibt man dagegen viele Nummern auf einen Bogen, fällt es viel schwerer etwas zu machen. Wir beide spielen mit unserem Leben, aber darauf kommt es jetzt nicht an.
Während der Aktion gelingt es mir, einige Pappen unter das Hemd zu schieben. Etwas später schafft es auch mein Kollege. Nach gut eineinhalb Stunden ist auch der letzte Mann durch die Sperre und die Bilanz wird gezogen. Ich werde nie vergessen, wie der Hauptsturmbahnführer Schmidt sich an mich wandte und fragte: „Wie viel waren es, die wir notiert haben?“ Ich antwortete, dass wir sofort zählen würden. Es waren ca. 350, wenn ich mich recht erinnere. Ich habe gezittert, als ich ihm die Gesamtzahl nannte. Unter dem Hemd brannte mir die Pappe, die ich ihm vorenthalte, wie Feuer. Es waren 120. Auch mein Kollege hatte nicht viel weniger unter seinem Hemd. Ich atmete erlöst auf, als er nichts beanstandete und sogar noch hervorhob, dass wir unsere Sache gut gemacht hätten und dass er sich nicht betrügen lässt, denn er hat genau mitgezählt.
Diese Situation hat sich noch öfter wiederholt, aber immer ist es uns gelungen etwas verschwinden zu lassen.
In der Folgezeit versuchte ich im täglichen Einsatzbericht nach Dachau die Krankenzahl zu verschleiern, um das Schicksal nicht herauszufordern. Unter allen möglichen Tarnungen wurden Kommandos nach Dachau gemeldet, obwohl diese jeder Grundlage entbehrten. Ich wusste, dass ich jede Stunde damit auffliegen konnte, aber es war meine Pflicht, in dieser Stellung das beste für uns herauszuholen.
Die Lage wurde etwas gespannt, als Zugänge, d.h. frisches Blut aus Dachau kam. Unser Lagerstärke stieg auf 2500, nachdem auch bald 50 weibliche Häftlinge kamen und im Lagerinnendienst eingesetzt wurden und damit viele Männer für den Außendienst freimachten. Ein kleines Viereck innerhalb des Lagers wurde abgezäunt: das Frauenlager. Unter den Häftlingen tauchten neue Probleme auf mit der Anwesenheit der Frauen. Es war strengstens beiderseits verboten auch nur untereinander Kontakt aufzunehmen oder zu sprechen. Aber Verfehlungen waren an der Tagesordnung. Es entstand leider auch Rivalität unter den männlichen Häftlingen, die eines Tages zu nichts Gutem führen würden.
Die hygienischen Zustände zeigten eigentlich eine kleine Aufwärtskurve, denn es trafen Bekleidung und Schuhe aus Dachau ein. Alles war schnellstens vergriffen, aber der größte Mangel war behoben, obwohl noch lange nicht alles war wie es sein sollte. Trotzdem hatten täglich 10 - 15 Tote. Das sind Zahlen, die prozentual zu der Lagerstärke unverhältnismäßig hoch sind. Doch dem Hauptlager machte das nicht viel aus. „Nachwuchs“ war immer vorrätig.
Sie fragten mich gestern nach der deutschen Nationalität. Ich persönlich würde ein deutsches Verdienstkreuz ablehnen,. Ich meine nicht wegen... ich meine aus Prinzip. Es sind zu viele Leute, die auf der Gegenseite waren und dieses Verdienstkreuz haben, als dass ich mich unter Gleichberechtigten fühlen könnte und sagen, ich hab’s auch. Da hätte man etwas sorgfältiger damit umgehen müssen. Das ist etwas was mich unerhört stört, dass Leute ausgezeichnet wurden, von denen man weiß, dass sie hohe SS-Leute waren. (Seitenhieb auf Hans-Martin Schleyer)
Übrigens am 2. Mai kam hier diese Truppe da.
Mittwoch 2. Mai, 8 Uhr vormittags. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel erscheint Major Langleist, was im Häftlingslager erneut Unruhe aufkommen lässt. Im folgt fast auf dem Fuß eine etwa 200 Mann starke Formation in Uniform der deutschen Luftwaffe. Sie sind stark bewaffnet und machen absolut nicht den Eindruck einer geschlagenen Truppe. Ich bin nicht im Zweifel, dass es getarnte Truppen der SS-Verfügungsdivision sind. Dort wo sie erscheinen, folgt Morden und Brennen.
Ich bin nur überrascht, wie ruhig ich jetzt der Entscheidung entgegenblicke. Das Leben von 750 Kameraden, die wir noch im Lager waren, hängt jetzt nur an einem Faden.
Die Ankunft der 200 ist im Häftlingslager natürlich nicht unbemerkt geblieben. Trotzdem wird eiserne Disziplin aufrecht erhalten, wenn ich von einer kleinen Panik absehen darf, die aber im Keim erstickt wurde. Die 200 haben sich inzwischen in Fünferreihen formiert und warten offensichtlich auf weitere Befehle. Major Langleist befindet sich in heftiger Diskussion mit dem Hauptmann. Vom Verhalten des letzteren hängt jetzt alles für uns ab. Man sieht schon an ihrer Erregung, dass sie sich nicht einig sind. Ich fürchte schon für den Hauptmann, denn schließlich ist der Major sein Vorgesetzter. Major Langleist macht plötzlich kehrt und wendet sich an seine Truppe. Ich bin zu weit entfernt, um etwas verstehen zu können. Es dauert nur Sekunden, aber sie werden zur Ewigkeit. Ich traue meinen Augen nicht, als ich sehe, wie sich die Formation auflöst und in Scharen im Wald verschwindet. Ich bin maßlos überrascht. Die Entscheidung dürfte damit endgültig zu unseren Gunsten gefallen sein. Der Major steigt in seinen Wagen, der in schneller Fahrt meinem Blick entschwindet.
Der Hauptmann ruft mich in seine Wohnung, wo er mir stolz verkündet: „Sie haben gesehen, dass Langleist erneut gekommen ist. (Der erste Versuch war am 30.April). Die 200 waren zur gewaltsamen Liquidierung des Lagers bestimmt. Es waren SS-Spezialtruppen, der Spezialität diese Arbeit gewesen wäre. Ich habe mich geweigert, die Häftlinge für diesen Zweck herauszugeben, da ich das Lager mit Insassen den amerikanischen Truppen in ordnungsgemäßem Zustand übergeben will und mich davon von keinem Menschen - gleich wer es ist - abbringen lasse. Ich habe ihm ferner gesagt, dass ich im Ernstfall mit der Waffe und mit Hilfe meiner Wachmannschaften das durchsetzen werde. Noch sind meine Truppen da und ich bin Herr der Lage, so lange ich das will.“
Ich habe mich bei ihm bedankt und verspreche ihm, dass wir jederzeit für das gegebene in Form der schriftlichen Erklärung einstehen werden.
Mittags 1 Uhr am 2. Mai: Noch regt sich nichts, aber es ist die große Ruhe vor dem Sturm. Das fühlt jeder. Ich fühle auch, dass alle Hindernisse auf dem Weg in die Freiheit beiseitegeräumt sind. Es kann nur eine Frage von Stunden sein und wir sind frei. Kurze Zeit später höre ich durch das Radio, dass die Panzerspitze fast die Stadt Mühldorf erreicht hat. Der Vormarsch gehe unbehindert weiter. Sie sind also wirklich nur noch etwa 15 Kilometer von uns entfernt. Ab zwei Uhr steht alles in dem Häftlingslager, was sich nur irgendwie auf den Beinen halten kann an den Stacheldrähten. Der Blick geht gebannt in eine Richtung, aus der die Befreier kommen müssen. Viele wagen es noch nicht zu hoffen. Wer kann diesen Augenblick wirklich erfassen. Zwei lange Stunden vergehen, aber die Menschen weichen nicht vom Draht. Irgendeiner erblickt ihn dann zuerst: In schneller Fahrt, - wie es nur der enge Waldweg erlaubt - nähert sich der erste amerikanische Tank dem Lager. Es waren zwei Tanks. Alles setzt sich in Bewegung, um das Eingangstor des Lagers zu erreichen. Die zwei SS-Posten haben schon ihre Gewehre weggeworfen und werden überrannt. Der Tank, dem schon ein zweiter und dritter folgt, hält. Fünf Soldaten steigen aus, die geführt werden von einem Offizier. Die SS hat schon die Postentürme verlassen. Ihre Gewehre fliegen im hohen Bogen in den Wald. Sie sind im nächsten Augenblick von uns umzingelt und bekommen die ersten Racheschläge. Die anderen sind auch schnell entwaffnet und werden am Tor des Lagers gesammelt.
Da stehen sie nun, die Elitetruppen des nationalsozialistischen Deutschland und trugen gerade so, als ob sie nicht bis drei zählen könnten. Feiglinge. Dann werden sie von den Amerikanern umringt.“
Übrigens muss ich Ihnen dazu sagen.. ich meine, es tut an und für sich nichts zur Sache... Diese zwei Panzer waren besetzt alles mit jüdischen Soldaten.
(Textausschnitt), ein ganz komplettes Team, alle beiden Tanks, die ersten die ins Lager kamen. Auch der Offizier war ein Jude. Er schenkte mir noch eine Mesusa, was die orthodoxen Juden an der Tür haben, wo man durchgeht. Da sind die zehn Gebote....
Als ich am 2. Mai mit den anderen Häftlingen in Ampfing befreit wurde, begann für mich praktisch die zweite Geburt, denn ich bin ja in einem ganz anderen Jahrgang geboren und nicht 1945. Und so betrachte ich halt meinen zweiten Geburtstag als den 2. Mai 1945. Und der Geburtsort ist eben Ampfing.
Es gab ja keine Transportmöglichkeiten, der Fußweg wäre sehr weit gewesen und so bat ich einen Amerikaner. Ich fand dann auch einen Texaner und der war sehr scharf auf Pferde. Da habe ich ihm zwei Pferde besorgt und daraufhin hat er mir zugesagt, dass er Freunde und mich in einem Militärauto nach München befördert, indem er ein Auto für uns anhält.. Das hat auch geklappt. Doch die fuhren nicht bis München, sondern bogen schon lange vorher ab zu einer anderen Einheit. Da standen wir dann auf der Chaussee und aus einiger Entfernung sah ich einen Bauern, der mit einem Traktor ein Feld pflügte. Ich glaube, er hatte einen Pflug oder eine Egge dran. Da haben wir halt den Traktor beschlagnahmt und mit dem Traktor bin ich dann zusammen mit meinen Freunden nach München gefahren. Da war nur ein Sitz und so ein Notsitz, und die anderen standen nur an der Seite. So kamen wir nach München.
Von dem Schicksal meiner Familie haben insofern erfahren, als ich am 29. Mai nach Paris kam, habe ich in verschiedene Länder telegrafiert. Das ging durch eine jüdische Organisation, denn ich hatte ja gar kein Geld, um ein Telegramm aufzugeben. Ich telegrafierte nach Südamerika, ins damalige Palästina, nach Belgien und in die USA. Als erste Antwort sah ich dann meinen Bruder wieder, am 10. Juni, elf Tage nachdem ich nach Paris gekommen war. Da stand er in Uniform vor mir, in englischer Uniform. Er hatte den Krieg auf Seiten der englischen Armee mitgemacht. Und das war eben der erste Kontakt. Von meiner Mutter wussten wir beide nichts, weder mein Bruder noch ich. Aber als dann die ersten Listen kamen von Überlebenden in Berlin. Dann wurden die von einem Onkel und einer Tante in New York gelesen und sie fanden den Namen meiner Mutter. Daraufhin haben sie sich mit meinem Bruder in Verbindung gesetzt, mit dem sie immer Kontakt hatten, auch während er in der Armee war und haben... er ist dann sofort nach Berlin gefahren. Er hat Sonderurlaub bekommen von seiner Einheit und hat meine Mutter herausgeholt aus Berlin, was damals nicht so ganz einfach war - und hat sie zu sich genommen in die damalige britische Besatzungszone bei Meppen.
Ich war nun doch in der Schreibstube tätig und neben mir stand ein Telefon und ich hätte es benutzen können, um eventuell einen Fernruf zu machen nach Berlin. Aber ich hätte meine Mutter vielleicht damit gefährdet, denn sie war ja schon illegal, was ich allerdings damals nicht wusste, wo sie abgeblieben ist, so dass ich diese Möglichkeit nicht wahrnehmen konnte. Ich hätte Anlaufpunkte haben können von Telefonnummern ehemaliger Geschäftskollegen auf die ich mich hätte verlassen können und hätte telefonieren können, aber damals gab es noch keine Selbstwählverbindung. Ich hätte das Fernmeldeamt benutzen müssen und dann hätte man gewusst, dass ich telefoniert habe. Das konnte ich nicht riskieren. An die Familie hat man natürlich gedacht. Ich hab immer dran gedacht, weil die Möglichkeit so nah war, irgendwie Kontakt aufzunehmen. Ich hätte auch durch einen SS-Mann, der mit mir in der Schreibstube arbeitete, Kontakt aufnehmen können, aber das Risiko war nun doch ein bisschen zu groß.
Ich bin 15 Jahre jedes Jahr zur Kur nach Bad Schwalbach im Taunus gefahren und es war immer um die Sommerzeit - Juli, August und so. Eines Tages hab ich mich ahnungslos in den Kurpark gesetzt und habe eine Zeitung gelesen. Dann haben sich zwei etwa 55-60-jährige Männer dazugesetzt und auf einmal höre ich, wie der eine zum anderen sagt: „Die sind nicht alle vergast worden, da leben noch welche. Ich muss dazu sagen, dass ich eine ziemlich große tätowierte Häftlingsnummer aus Auschwitz am linken Unterarm habe, die nicht zu übersehen ist, wenn man kurzärmelig geht. Und ich bin seitdem nie wieder in Deutschland zur Kur gefahren. Und nicht einmal das Entschädigungsamt, das ja wirklich nicht für uns eingestellt ist, hat gefordert, dass ich je wieder eine Kur in Deutschland mache. Und das sind inzwischen ja wirklich schon Jahrzehnte her.