Auszug aus: Konrad Charmatz: Nightmares
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(Memoirs of the Years of Horror under nazi-rule in Europe, 1939-1945)
(1975)2003 Syracuse Univesity Press
Übersetzung des Ausschnitts von S.172 bis 243: J.Wagner
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Alpträume
(Artikelüberschriften, die übersetzt wurden:)
Die schreckliche Zeit der Reise von Zychlin nach Dachau dauerte drei Tage; der Schmerz und das Leiden würden für 30 Jahre gereicht haben. Es geschahen so schreckliche Dinge, dass es mir unmöglich ist, nur einen kleinen Teil von dem zu erzählen, was wir aushielten. Diese Reise kostete viele Leben. Manche von uns erstickten an der verschmutzten Luft, manche wurden zu Tode gequält und viele von wurden schwach vor Hunger und Durst, so dass ihre Zungen wie Lederriemen heraushingen. Viele von uns brachen physisch und psychisch zusammen. Neben mir starb ein Mensch, aber er konnte nicht zu Boden sinken, weil er so eingezwängt war. Die ganze Zeit schaukelte er vor und zurück mit einem wissenden Lächeln auf dem Gesicht, als ob er sagen wollte: „Ich lache euch alle aus. Meine Welt, mein Leiden ist beendet.“
Schließlich erreichten wir unser Ziel, Dachau. Wir stiegen aus dem Zug wie verrückte wilde Menschen, halbnackt, schmutzig, unsere Haut mit Wunden bedeckt. Die Luft regte uns an wie Alkohol. Wir stolperten, wie wenn wir auf fremden Beinen stünden. Unsere Augen glänzten wild und verängstigt. Wir wussten nicht, was wir mit uns anfangen sollten. Beim Appell gewannen wir einige unsere Sinne zurück, als wir gezählt wurden, um registriert zu werden. Wir bekamen neue Nummern. Meine Nummer in Dachau war 88724.
Die Hälfte der Fläche war mit Körpern bedeckt. Überall lagen Leute wie Leichen herum – krank, halbtot und tot. Ich hatte keinen Spiegel, um hineinzuschauen, wie ich ausschaute, aber wenn ich in die anderen Gesichter schaute, dann konnte ich mir mein Erscheinungsbild gut vorstellen. Das waren keine menschlichen Gesichter, sondern Masken. Man fühlte sich zum Weinen, aber die Quelle der Tränen war ausgetrocknet. Neben mit lag ein halbtoter junger Mann von ungefähr dreißig Jahren, der schon wie ein alter Mann aussah, alles grau. Die blauen Venen in seinen Schläfen pochten. Seine dünnen Lippen bewegten sich, als er etwas sagen wollte. Er betete offensichtlich und dankte Gott, für seine Gnade, ihn überleben zu lassen.
Plötzlich war es, als wenn alles explodierte. Wir hörten eine Stimme: „Kaffee!“ Zwei Töpfe mit schwarzem Wasser wurden gebracht. Bald kamen Kapos und Blockälteste mit sauberer Kleidung, die wie Menschen aussahen. Sie begleiteten die Kaffeetöpfe und kamen, um uns kennenzulernen. Ich hörte einen zum anderen sagen: „Mist!“
Als wir die Kaffeetöpfe sahen, standen wir auf und stellten uns in einer Reihe an. Wir kamen drei- oder viermal wieder um mehr zu bekommen, was eine Revolution in unseren Bäuchen verursachte. Aber es belebte uns dermaßen, und wir begannen uns von dem Horror zu befreien, der die Fahrt von Warschau nach Dachau gewesen war.
Wir blieben nur ein paar Tage in Dachau, nur bis unser Dreck abgewaschen war, unsere Haare geschnitten wurden und eine Selektion gemacht wurde. Wir wurden wie lebendes Inventar sortiert und verteilt auf verschiedene Außenlager von Dachau, die über Bayern verteilt waren. Ich wurde in einen Waggon geladen, der Ampfing-Mühldorf als Ziel hatte, wo ich als Arbeitssklave eingesetzt wurde.
56 Mühldorf und Waldlager
Mühldorf, etwa 80 Kilometer von München entfernt, hatte zwei Lager: Das Stammlager, das Hauptquartier der Zwangsarbeiter und das Waldlager, so genannt, weil es mitten im Wald lag, etwa 3 Kilometer von Ampfing entfernt. Das Lager war im Aufbau und es war unsere Arbeit, es fertig zu stellen. Ich wurde dem Waldlager zugeteilt. Ich war froh, dass ein paar gute Freunde mit mir kamen, unter ihnen Ferdl Lenchner, der so gut beim „Organisieren“ von Essenssachen war. Im Waldlager aber waren wir tief im Wald, weit weg von jeder Siedlung, abgeschnitten von der Welt.
Wir wurden zeitweise in fensterlosen Holzbaracken gehalten. Später wurden grubenähnliche Bunker für uns gebaut. Nur ihre Dächer, die wie Tierhöcker aussahen, schauten über den Boden heraus. Die Dächer waren mit Soden bedeckt, die Kälte und Regen abhalten sollten. In der Mitte von jedem Bunker wurde ein Gang gegraben, und auf dem Boden zu jeder Seite waren „Betten“ – schmale Strohsäcke. Das einzige Fenster war am Eingang. Diese Bunker waren über das ganze Lager verstreut. Zehn von ihnen, fünf auf jeder Seite, gehörten zu einem Block. Neben diesen Bunkern gab es hölzerne Baracken, in denen nur die „Prominenten“ sich aufhielten. Die SS-Wachen und ihre Kommandeure hatten ihr Lager auf der anderen Seite des Waldes. Die Küche und das Bekleidungslager waren im Lager, aber durch einen Stacheldraht vom übrigen Lager getrennt. Es gab auch einen Stall für Pferde, Esel und Ochsen, die von Häftlingen versorgt wurden.
Unsere Hauptaufgabe war, einen unterirdischen Flugzeughangar zu bauen, um V1 und V2-Raketen (Falsche Vermutung, JW.)zu montieren, die auf London gerichtet werden sollten. Die Arbeit war sehr schwer und nahm uns die Kraft. Nur zur Arbeit und zurückzukommen ermüdete uns schon. Wir mussten mehrere Kilometer durch dichten Wald mit hölzernen Clogs zu Fuß gehen, die unsere Füße verkrümmten. Auf dem Hinweg gingen wir nach einer Nachtruhe mit mehr Schwung; auf dem Rückweg mit Rückenschmerzen von der schweren Arbeit, schleppten wir uns nur noch vorwärts, von den SS-Wachen getrieben, die in Eile waren, um in ihre warmen bequemen Baracken und Kantinen zu kommen.
Die Arbeit bestand in der Beförderung von Zementsäcken und eisernen Holmen und Gestängen. Diese Eisengestänge wurde in hölzerne Verschalungen eingepasst, die dann mit Beton gefüllt wurden, um verstärkte Pfeiler zu bekommen. Ich zog das Tragen von Eisen und Steinen dem Tragen von Zementsäcken vor, die Eisenbiegearbeit war schwerer, aber sauberer. Der Zementstaub ging in den Mund, die Augen und die Nasenlöcher und legte sich in den Lungen ab, was es einem schwer machte zu atmen. Oft fühlten wollten wir uns erbrechen, aber die Kapos und Vorarbeiter ließen uns keine Atempause. Sie trieben uns ständig mit Peitschen und Schlägen an.
Tausende von Häftlingen arbeiteten in dem Hangar-Komplex. Jede 50er-Gruppe von Häftlingen hatte seinen Kapo, seinen Vorabreiter, seine SS-Wache. Jeder der sich danebenbenahm wurde in den Wald gezogen und einfach zu Tode gequält, wobei keine Kugeln verschwendet wurden. Es war wie den Turm von Babel zu bauen, so viele Sprachen wurden im Lager gesprochen, so viele Flüche von verschiedenen Nationalitäten waren zu hören. Aber alle Schläge wurden in einer Sprache gegeben und jeder weinte dieselben Tränen.
Es kam eine Zeit, wo wir nicht mehr weinen konnten. Es war, als wenn unser Tränenreservoir ausgetrocknet war. Unser Herzschlag sank und unsere Füße trugen uns nicht mehr. Der Hunger wurde untragbar. Die frische Luft des Waldes gab uns einen gesunden Appetit und unsere Mägen schmerzten vor Nahrungsmangel. Anstatt Essen bekamen wir jedoch Zementstaub. Wieder verlor ich meine Energie, so dass ich fürchtete ganz zusammenzubrechen. Auch in diesem Lager wurden jede Woche Selektionen gemacht. Die unfähig waren zu arbeiten, wurden nach Dachau zurückgeschickt, wo sie auf dem schnellstmöglichen Weg in den Himmel geschickt wurden.
Ich werde nie die Zeit vergessen, wo ich eine Gruppe vom Lager nach Dachau begleitete. Unter ihnen waren einige litauische Intellektuelle, Rechtsanwälte und Richter, die eine wichtige Rolle in ihrem Land gespielt hatten. Ihre Blicke waren leer, ihre Wangen eingesunken, ihre Gesichter bitter und verzweifelt. Sie wussten, wo sie hingebracht wurden, aber sie protestierten nicht und beklagten sich nicht. Sie wollten nur, dass es vorbei war. Es tat mir im Herzen weh, sie zu sehen, wie sie ihrem Tod entgegen gingen, nachdem sie so viel ertragen hatten. Nun, nicht weit entfernt von der Freiheit, am Ende des schrecklichen Krieges, mussten sie ihrem Leben Lebewohl sagen.
Als ich von der Arbeit zurückkam, warteten meine Freunde auf mich, damit ich ihnen Neuigkeiten erzählte, ihnen einige Kommentare über die politische und militärische Situation in der Welt gab um vorauszuberechnen, wie lang wir noch leiden mussten; aber ich kam müde zurück, erschöpft und so demoralisiert, dass ich meine Gedanken gar nicht sammeln konnte und die gegenwärtige Lage bewerten, die von Tag zu Tag schlimmer wurde. Außerdem hatte ich keine Gelegenheit eine Zeitung zu lesen, obwohl mir Freunde Papierfetzen von ihren Arbeitsplätzen bei deutschen Handwerkern mitbrachten, Stücke, in die die Deutschen ihre Sandwiches oder andere Artikel einwickelten. Ich war so müde und erschöpft, dass ich keine Kraft und Geduld hatte, sie zu lesen. Außerdem brannten meine Augen wie Feuer von dem Zementstaub, den sie den ganzen Tag aufgenommen hatten und ich konnte sie kaum offen halten.
Es gab keine Waschbaracken im Waldlager. Von Zeit zu Zeit wurden wir zu einer Waschbaracke auf einem Feld, nicht weit vom Stammlager entfernt gebracht, um abgespült und entlaust zu werden. Sie trieben uns durch die Stadt Ampfing. Alle Schaufenster mit ihren Angeboten von Kleidern, Anzügen und Modeartikel interessierten uns nicht, aber wenn wir an der Bäckerei vorbeikamen und den Geruch frischen Brotes rochen, wurden wir verrückt vor Begehren, in einen frischen Laib zu beißen. Unsere Augen leuchteten auf wie Blitzlichter und alle Augen begehrten nach einem Ding... Brot! Brot!
Meine Freunde versuchten meine Situation zu verbessern und meine Moral aufzubauen, die gänzlich zerstört worden war. Sie wollten mir wirklich helfen, so dass ich nicht auf der Hauptbaustelle arbeiten müsste und so schwere Arbeit leisten. Eines Tages kamen sie zu mir mit einem Vorschlag. Ein Blockältester wurde bestraft wegen Schmuggelns von „Luxusgütern“, Zigaretten, bessere Kleidung, Obst usw. Er hatte auch jüngere Kinder benutzt, hatte sie missbraucht und sie dann mit Brot und Suppe bezahlt, die er aus den Rationen abzweigte. Meine Freunde intervenierten beim Lagerfältesten, der ein politischer Häftling war, es so zu arrangieren, dass ich seinen Platz einnehmen könnte.
Die Häftlinge von diesem Block waren überaus erfreut über diesen Vorschlag, dass ich ihr Blockältester würde. Aber ich enttäuschte sie tief. Ich dankte meinen Freunden für ihre Bemühungen und ihre Freundschaft, aber ich fügte hinzu, dass ich den Posten nicht annehmen konnte. Ich sagte ihnen warum: Ich hatte vielen ähnlichen Versuchungen widerstanden und würde dieser nun auch widerstehen. Vier Jahre hatte ich Hunger gelitten und war großen Gefahren ausgesetzt, aber ich hatte durchgehalten. Ich konnte mir nicht erlauben, mich von den Verführungen umgarnen zu lassen, um mein Leiden zu vermindern – Versuchungen, die der Posten mit sich bringen würde. Ich hatte nie den Nazis gedient, und würde sicher das auch jetzt nicht tun, während der Krieg zu Ende ging.
Ich versuchte mich zu überzeugen, dass meine Freunde recht hatten, dass sie mir ernsthaft helfen wollten. Sie wollten, dass ich freier sei, um lesen zu können und mich mehr in die Politik vertiefen konnte, um Kommentare über die Situation abzugeben. Aber meine guten Einstellungen siegten über die schlechten. Sie warnten mich: Du wirst nicht stark genug sein, den Versuchungen zu widerstehen, wenn du das Essen aufteilst; du wirst nicht widerstehen können, die dickste Suppe für dich selbst übrig zu lassen. Und da du das Brot aufteilst, wirst du nicht widerstehen können, die größte Portion für dich selbst abzuschneiden. Außerdem wirst du für die Missetaten von den anderen verantwortlich sein. Es gab böse Elemente in dem Block, die vermeiden wollten zu arbeiten, wer würde versuchen, Brot von seinen Freunden zu stehlen und du als Blockältester wärest derjenige, der sie bestrafen müsste.
So beschloss ich ausdrücklich, dass ich, was immer auch geschah, von den Nazis keine solche Position akzeptieren würde, sogar wenn es meinen Tod bedeuten würde. Ich hatte bis jetzt überlebt, ohne meinen Namen beschmutzen zu müssen und ich würde fortdauernd den Versuchungen widerstehen, egal wie schwierig das für mich würde.
In der Nacht bevor ich zu diesem Entschluss kam, konnte ich nicht schlafen – der Entschluss lag mir schwer auf dem Herzen. Blockältester zu sein würde bedeuten, mich nicht mehr die langen Kilometer zur Arbeit zu schleppen und zurück, keine Zementsäcke mehr, kein Staub in meiner Lunge, keine Eisengestänge und Betonblöcke mehr, keine Flüche und Schläge von den Kapos und den Vorarbeitern mehr. Es würde ein friedliches Leben im Block bedeuten, nachdem die Kommandos ausmarschiert wären, die Gelegenheit, in Ruhe zu essen und sich nach dem Essen auszuruhen, die Möglichkeit Nahrungsmittelvorräte zu organisieren um unsere Rationen zu verbessern, die Chance Kontakte mit der Lagerführung zu pflegen und die Möglichkeit bessere Kleidung zu bekommen und andere Dinge.
Aber dann dachte ich an das Leiden in den Augen der hungernden Häftlinge, die anstanden, um sich ein bisschen Suppe zu holen oder ein Stück Brot. Ich dachte an die Blockältesten, die sie auf Geheiß der SS-Wachen quälten. Ich dachte an meine Helfer, das Blockpersonal, die die Häftlinge quälten und schlugen, und sie zur Arbeit trieben, auch wenn sie hohes Fieber hatten und die sie schwer für das kleinste Fehlverhalten bestraften, Ich wollte nicht, dass das Leiden aller Misshandelten mein Bewusstsein vergiftete.
Als es hell wurde, hatte ich beschlossen, dass ich kein Blockältester werden wollte. Es war eine große Enttäuschung für meine Freunde; nicht persönlich, ich war erleichtert, dass ich der Versuchung widerstanden hatte. Ich ging an diesem Morgen zur Arbeit in einer ruhigen Stimmung, Frieden in meinem Verstand, als wenn ich eine Schlacht gewonnen hätte.
Meine Freunde gaben nicht auf. Es traf sie, dass ich so hart arbeiten musste bei meinem Hauptbaustellenjob. Sie sahen, wie ich zusammenbrach, wie ich jeden Tag dünner wurde und kaum mehr laufen konnte. Sie bedauerten, dass ich kein Interesse mehr an Politik hatte und nicht mehr über öffentliche Angelegenheiten sprach. Jeden Abend brach ich vor Erschöpfung zusammen wie eine Puppe; jeden Morgen vor Sonnenaufgang musste ich aufstehen und mich zur Hauptbaustelle schleppen.
Mein Freund Feitl Lenchner hatte einen Freund in der Küche, einen Metzger aus Chrzanow. Ich bedauere, dass ich mich an seinen Namen nicht erinnern kann, weil er ein guter, ruhiger Bursche war, der viel für seine Freunde tat und dessen Name unsterblich gemacht werden sollte. Feitl brachte mir von ihm ungeschälte Kartoffeln oder manchmal auch Karotten oder ein bisschen Suppe. Sie richteten meine Seele wieder auf und sie genoss sie sehr.
Eines Abends kam ich sehr niedergeschlagen von der Arbeit zurück. Der Kapo hatte es auf mich abgesehen und hatte mich denen zugeteilt, die Zement schaufeln mussten; der kam lose bei uns an, so dass wir ihn in Säcke oder Kisten füllen mussten. Infolge dessen verschloss sich meine Nase und meine Augen klebten zusammen. Aber in dieser Nacht hatten meine Freunde gute Nachrichten für mich. Mit dem Segen der Lagerführung hatten sie die Leitung des „Stallkommandos“ überzeugt, mich dort unterzubringen. Ihrer Überzeugung nach war das ein „goldenes Kommando“, denn oft ritt einer mit den Pferden und Ochsen aus und hatte so Gelegenheit, etwas zu essen zu organisieren.
Ich frohlockte bei diesen Neuigkeiten. Nicht lange vorher, war ich an den Ställen vorbeigekommen und hatte dort Säcke mit trockenen Rüben draußen gesehen. Sie waren für die Tiere gedacht. Einige Freunde rissen diese Säcke mit ihren Fingernägeln auf und wir bedienten uns alle. Den Geschmack hatte ich noch im Mund. Nun würde ich noch mehr Gelegenheit haben, die Kühe zu bestehlen.
Am folgenden Tag wurde ich zu den Ställen geschickt und dem Kapo übergeben. Er war zu Hause ein Pferdehändler mit Namen Krakovsky. Ich wurde auch den anderen Kollegen des Kommandos vorgestellt, alles gesunde Burschen mit starken Muskeln und rötlicher Gesichtsfarbe. Sie merkten, dass ich nichts über Pferde wusste, so machten sie sich einen Spaß mit mir, auf meine Kosten Witze zu machen und mich zu fragen, ob ich wüsste, wie man die Ställe ausmistete.
„Wenn er es jetzt nicht weiß, dann wird er es lernen!“ rief Krakovsky, und scheuchte sie auseinander. Er nahm meine Hand und führte mich zu einem alten Esel mit riesigen Ohren und sagte: „Du bleibst bei dem da. Es ist ein alter, ein ruhiger, deshalb striegelst du ihn, hältst ihn in Form und reitest mit ihm aus. Ich bringe dir bei, was du wissen musst.“
Er übergab mit eine Bürste und einen Metallkamm. Der Obersturmbannführer kam oft herein und streichelte den Esel mit seinem Handschuh. Wenn er Staub in seinen Haaren bemerkte, wurde er wild und vergab Strafen. Kein Deutscher kann es haben, wenn ein Tier nicht sauber ist und gut gehalten wird ...
Als ich dem Esel vorgestellt wurde, drehte er seinen alten Kopf zu mir und schnaubte mich an, blinzelte mit einem Auge und schwang seinen Schwanz. Ich glaube, ich habe keinen guten Eindruck auf ihn gemacht. Er ließ mich aber ruhig sein Fell kämmen und bürsten, wenn ich ihm etwas zu essen gab. Ich fühlte mich sofort wohl mit ihm und gab ihm einen Namen – Slomo Nathan. Dieses Geschöpf war nicht mehr wild und revoltierte nicht, wenn ich ihn anspannte. Er schüttelte seinen Kopf wie ein Jude (machen wir eine respektvolle Unterscheidung) beim Beten. Er war sehr faul und zog nicht gern Lasten. Von Zeit zu Zeit würde er stehen bleiben und erkennen lassen, dass er nicht weitergehen wollte. Zu seinem Pech schlug ich ihn nicht mit der Peitsche. Wenn man das tat, half das nichts. Er würde mir den Kopf zudrehen, und mich mit seinen blinden Augen anstarren, als ob er mir sagen wollte: „Es wird nicht helfen. Wenn ich sage, ich gehe nicht, machen deine Schläge keinen Unterschied – Ich bewege mich nicht. So bettelte ich ihn: „Shlomo Nathan, würdest du so nett sein, ein paar Schritte zu gehen. Warum machst du mir Schwierigkeiten? Nichtsdestotrotz, ich bin dein Freund.“ Das half. Er würde den Kopf zu mir drehen, als wenn er sagen wollte: „Wenn du wie ein Mensch sprichst, dann höre ich dir zu.“
Langsam wurde ich mit meiner neuen Beschäftigung vertraut und wurde ein echtes Mannschaftsmitglied. Slomo Nathan hielt leider nicht mehr lange durch. In einer kalten schneereichen Winternacht, die ich benutzte um eine Ladung Holz zu transportieren, blieb er stehen, wieherte und weigerte sich weitergehen. Es wurde Nacht. Die SS-Wache, die uns begleitete, begann zu schreien, fluchte und begann ihn selber auszupeitschen, weil er in Eile war, in die warme Kantine zu kommen. Aber Shlomo Nathan weigerte sich, einen weiteren Schritt zu tun. Nach ein paar weiteren Schlägen, legte er sich in den Schnee, seine Augen wurden starr, sein Maul schäumte. Er warf seinen Kopf resignierend zurück , als ob er sagen wollte: „Ich habe genug. Es soll geschehen, was geschehen muss.“ Und kurz danach gab er seine Geist auf. Die Wache hörte auf, ihn zu schlagen und sagte zu mir: „Es hat keinen Zweck. Das Vieh ist tot.“
Ich bedauerte Shlomo Nathan, als ich ihn sterben sah. Es ist wahr, dass er nur ein Tier war, aber er war mein Freund geworden. Ich schüttete ihm mein Herz aus. Manchmal weinte ich bitterlich in seiner Gegenwart und manchmal, wenn es mir gelang, und ich organisierte etwas zu essen, teilte ich meine Freude mit ihm. Er hörte still meinem Geschnatter zu und drückte seine Gefühle durch Bewegungen seiner Ohren aus. Im Augenblick seines Todes öffnete er seinen vernebelten Augen als ob er sich versichern wollte, dass ich an seiner Seite war. Dann schloss er sie wieder, dieses Mal für immer.
In der Zwischenzeit hatte ich mich auch mit den anderen Tieren angefreundet, mit den Pferden und Ochsen. Krakovsky half mir in dieser Beziehung sehr viel. Er respektierte mich als intelligenten Menschen, der ein armes Teammitglied geworden war; in Dingen, in denen er sich wenig auskannte, verstand er, dass er sich auf mich verlassen konnte. Er sprach mit mir mehr als mit den anderen im Kommando. „Was verstehen die Pferdeköpfe schon?“ beschwerte er sich bei mir. Er erzählte mir, dass er von einer langen Reihe von Pferdehändlern abstammte. Sein Großvater war der Angestellte eines polnischen Adeligen gewesen. Wenn er mit mir sprach, kümmerte er sich um nette beschreibende Worte, intelligente Wörter, nicht solche, die er mit den „Burschen“ benutzte. Wenn er etwas Gescheites zum Chef der Wachen sagen wollte, schaute er mich an und fragte mich um etwas Vernünftiges, das er ihm sagen konnte.
Ich wuchs auch in seiner Achtung, als er sah, wie meine Gruppe kam, um mit mir über Politik zu reden und zollte dem, was ich sagte Aufmerksamkeit. Er war stolz, dass er so einen „Schlauen“ in seinem Kommando hatte. Deshalb beschützt er mich und verhinderte, dass die anderen mir Schwierigkeiten machten. Er selbst brachte mir bei, wie ich mit den Pferden und Ochsen umgehen musste, wie man sie anschirrte, wie man das Zaumzeug anlegte und die Sattelgurte befestigte. Wenn etwas zu essen zu organisieren war, ließ er mir das wissen und teilte es dann mit mir. Die anderen bissen die Zähne zusammen, wenn sie sich über meine Sonderbehandlung ärgerten. Aber sie konnten nichts dagegen unternehmen, solange der Kapo mein Patron war.
Eines Tages kam der Obersturmbannführer herein und fragte, ob jemand vom Stallkommando einen genauen Bericht über das Viehfutter abgeben könne, das wir benutzten. Er brauchte jemand, der wöchentliche Berichte über den wöchentlichen Verbrauch geben musste und wie viel es pro Tier in der Woche kostete, und schätzte, wie viel man deswegen in den nächsten 14 Tagen brauchen würde. Der Kapo zeigte sofort auf mich, weil er vermutete, dass ich so etwas können würde. Der Obersturmbannführer schaute mich eine Weile an und fragte:
“Du kennst dich mit Mathematik und Buchführung aus?“
„Jawohl“, sagte ich stolz und nahm Haltung an.
Ich musste ihn zufriedengestellt haben, weil er mir befahl, mittags in seine Amtsstube zu kommen. Das war außerhalb des Lagers über die Straße. Der Kapo war sehr stolz über meine Zustimmung, wie ich geantwortet hatte und wie ich den Obersturmbannführer beeindruckt hatte. Er war besonders erfreut, dass er nun eine Verbindung mit der Lagerführung hatte. Das würde die Türe für spezielle Beeinflussung offen halten. Ich war ebenfalls erfreut, einen guten Posten in der Lagerleitung gefunden zu haben. Das würde mir ermöglichen meinen ständigen Hunger zu mildern. Nun wurde ich von den anderen Zwangsarbeitern als privilegiert betrachtet – einer, der persönlichen Kontakt mit dem Obersturmbannführer hatte. Sogar meine Kollegen aus dem Stall betrachteten mich anders, als einen „nahe an der Führungsspitze“.
Als ich an diesem Nachmittag im Verwaltungsbüro ankam, winkten mich die Wachen herein. Ihnen war gesagt worden, dass ich eine persönliche Zuordnung zum Obersturmbannführer hatte. Als mich meine Freunde sahen, wie ich ohne Wache das Lager verließ, und direkt in die Verwaltungsbaracke ging, beneideten sie mich. Es war keine kleine Sache, das tun zu können.
Der Obersturmbannführer wartete auf mich. Er setzte mich an einen Tisch, legte alle Papiere vor mich hin, alle Rechnungen und Buchungen und erklärte mir, was ich tun müsse. Meine Finger waren nicht mehr gewöhnt an die Benutzung so spezieller Dinge wie Federhalter, Schreibmaschine und Rechenmaschinen. Er erklärte mir, wie die Kalkulationen, Bilanzen und Statistiken zu machen waren. Er organisierte für mich, dass ich zweimal die Woche kommen musste und ihm die Zusammenstellungen präsentieren.
Dieser Obersturmbannführer war kein typischer Soldat, kein steifer verknöcherter Soldat. Er schien ein Intellektueller zu sein. Er war klein und dünn, mit ein paar blauen Augen, und einer sanften Stimme. Er trug sein Hemd zugeknöpft und der Ledergürtel seiner Uniform war nicht festgeschnallt, sondern hing lose herunter. Er war blass und hatte immer einen verwirrten Gesichtsausdruck. Er behandelte mich streng, aber nicht wie ein Soldat oder Herrscher es machte – sondern wie ein strenger Onkel. Er vertraute sich mir nicht an, aber seine Anweisungen waren immer korrekt und höflich.
Ich arbeitete in einem Raum in der Nähe der Kantine wo die SS- und OT-Leute und einige Offiziere der Wehrmacht sich aufhielten. Viele von ihnen, wenn sie durch mein Zimmer kamen, wo ich mit meiner Lagerkleidung saß, maßen mich mit ihren Blicken, denn sie wussten, dass ich ein Jude und Lagerinsasse war. Aber es gab auch welche, die lächelten und manchmal warfen sie mir ein Stück Brot oder Obst zu, oder eine Zigarette, wenn sie sich versichert hatten, dass niemand zuschaute. Von Zeit zu Zeit, sagte der Obersturmbannführer selbst zu jemandem, er solle mir etwas zu trinken oder zu essen bringen – wie einem Hund, dem die Reste der Mahlzeiten hingeworfen werden.
Meine Buchhaltung für die Tierversorgung beschäftigte mich nur zweimal die Woche einen halben Tag. Den Rest der Zeit setzte ich meine Arbeit in den Ställen beim Pflegen der Pferde und Ochsen fort. Von Zeit zu Zeit ritt ich aus, um verschiedene Vorräte zu holen. Im Lager war das genug um den Status eines „Prominenten“ zu bekommen. Ich setzte meine politischen Kommentare wieder fort, aber nun für eine ausgewählte Gruppe von Freunden. Ich hatte nun mehr Gelegenheit deutsche Zeitungen zu lesen, an denen ich in der Schreibstube vorbeikam. Ich sammelte Zeitungsseiten und benutzte sie, um meine Kontenblätter einzubinden. Später las ich sie und erstellte meine Kommentare, die ich mit meinen Freunden besprach. Das brachte mir Status und Respekt ein.
Ich half meinen Freunden so viel ich konnte. Ich hatte viele Freunde unter den französischen und holländischen Juden, weniger unter den griechischen Juden. Viele der griechischen Kapos waren besonders falsch und brutal. Das heißt, unter den Griechen waren sie anständig und intelligente Leute. Am schwierigsten fand ich es, mit den ungarischen Juden umzugehen, weil wir uns nicht verstanden. Viele von ihnen sprachen nur ungarisch und verstanden keine andere Sprache. Sie waren deswegen oft isoliert. Ich bedauerte das oft – sie liefen herum, als sie taub und stumm wären, unfähig an unseren Diskussionen teilzunehmen. Als Folge litten sie doppelt. Sie fühlten sich allein und verlassen in einer feindlichen Welt.
Es gab zwei Arten von ungarischen Juden: die sehr religiösen und die hochgradig angepassten. Die religiösen – besonders solche aus den Grenzgebieten von Rumänien, Ungarn und der Slowakei – verstanden etwas jiddisch, das Esperanto des Lagers. Jiddisch verband die Juden der verschiedenen Länder. Sogar die holländischen und griechischen Juden lernten jiddisch zu sprechen.
Die ungarischen Juden die religiös waren, waren orthodox, wie folgende Anekdote zeigte: Eines Tages wurde ich angewiesen, eine Gruppe von etwa zwanzig Frauen und Mädchen in ein Dorf zu fahren, um Gemüse für die Lagerküche zu ernten. Zwei SS-Wachen, ein Mann und eine Frau begleiteten uns.
Ich setzte mich auf den Wagen und kümmerte mich um die Pferde, während die Mädchen die Säcke mit Gemüse füllten. Die meisten der Frauen waren aus Ungarn. Die Wachen gingen inzwischen in den Bauernhof und taten was sie wollten. Ich bemerkte, dass in einiger Entfernung ein Mädchen die ganze Zeit ohne Bewegung stillstand. Als ich die SS-Frau kommen sah, hatte ich Angst, sie würde sich dieses Mädchen greifen und sie brutal schlagen. Ich lief in das Feld, als ob ich einen gefüllten Sack aufheben würde, in der Absicht das Mädchen zu warnen, dass der „Teufel“ kommen würde, dass sie sich niederbeugen solle, um vorzugeben, zu arbeiten. Das Mädchen antwortete mir nicht, aber stattdessen bewegte sie still die Lippen. Eine Freundin von ihr erzählte mir, dass sie nicht antworten konnte, weil sie „Shmona-Esrei“ sprach.
Der Klausenburg-Rebbe war eine wundervolle Persönlichkeit, der geistig und physisch schrecklich litt. Sein Bart war abrasiert worden, wahrscheinlich gewaltsam. Er verweigerte absolut, seine Portion an Suppe und Wurst zu essen und als Ergebnis verlor er seine Kraft und wurde jeden Tag dünner. Viele Leute nahmen ihm übel, dass er diesen verrückten Weg fortsetzte. Hier musste sich jeder selbst retten, wie er konnte und nicht versuchen die Essensgesetze des „kashrut“ einzuhalten. Manche klagten ihn an, um Mitleid zu heischen. Andere verhöhnten ihn und versuchten ihn sogar zu schlagen. Persönlich dachte ich, dass er aufrichtig war – er war wirklich darauf vorbereitet an Hunger zu sterben, statt unkoscheres Essen zu sich zu nehmen. Er tauschte seine Suppe und seine Wurst für ein trockenes Stück Brot. Auf diese Weise ließ er sich betrügen – die Suppe war viel wertvoller als das Stück Brot, das er dafür bekam. Wenn keine Ansprechpartner für so einen Handel da waren, gab er die Suppe umsonst weiter, ohne sie anzurühren.
Von Zeit zu Zeit unterstützte ich ihn mit einem Stück Brot oder ein paar Kartoffel, manchmal sogar rohe. Ich hatte einige Beziehungen zum Chef des Küchenpersonals und erbettelte von ihm ein paar Kartoffel, eine Karotte, oder eine Rübe für den Klausenburger Rebbe. Ich glaube ich half dabei, dass er am Leben blieb. Die Leute aus einer Stadt erzählten mir, dass er eine große Tragödie erlebte: seine ganze Gemeinde war zerstört worden und seine Frau und seine Kinder umgekommen. Trotzdem beklagte er sich nicht. Er akzeptierte, was passiert war, als eine Strafe Gottes, und ertrug sein Leiden mit Liebe. Man konnte jedoch seine Tragödie in seinen dunklen Augen sehen, die sich immer mit Tränen füllten. Er sprach wenig und nie, um sich zu beklagen. Er betete laut und las Psalmen. Im Gebet fand er Hoffnung und Trost. Er stand in einer Ecke oder vor einem Baum, so dass ihn niemand bemerkte und sagte seine Gebete.
Eines Tages nahm ich eine Gelegenheit wahr und fragte die Lagerleitung in seinen Belangen, ihn von der harten Arbeit auf der Hauptbaustelle wegzunehmen und ihn im Block als Hausgehilfe arbeiten zu lassen. Er musste um den Block gehen und mit einem Besen zusammenkehren, die Dinge auszurichten und zu seinen Gebeten zurückkehren. Er war mir dankbar für meine Einmischung. Wenn er ein Problem hatte, fragte er mich um Hilfe und ich half wenn es möglich war.
Während der Feiertage 1944, organisierten wir ein Minyan im Waldlager. Wir richteten es in einer runden Baracke ein, eine der älteren im Lager. Einige von uns waren „Kalenderzähler“, und wussten so, wann diese Feiertage waren. Am Gesicht des Klausenburger Rebbe konnten wir sehen, dass sich die Feiertage näherten. Sein Gesicht wurde völlig nach innen gekehrt. Seine Augen schauten auf eine weit zurückliegende Zeit und seine Lippen murmelten ständig. Er schaute aus wie jemand, der vor einer großen Prüfung stand.
Ein paar Häftlinge hatten beschlossen, Gebetszeiten an Rosh Hashanah und Yom Kippur durchzuführen. Weil es keine Gebetsbücher dafür im Lager gab, bot der Klausenburger Rebbe an, für die Belange von jedem zu beten; nach allem konnte er alle Gebete des ganzen Gebetsbuchs auswendig – ohne die frühere poetische Form natürlich. Deshalb würde er laut beten und die anderen würden es nach ihm wiederholen. Während des Tages war es nicht möglich, ein Minyan zu haben, denn jeder musste arbeiten, aber in der Nacht versammelten wir uns in der Baracke und beteten. Es ist interessant, dass an Kol Nidrei Juden aus allen Blocks da waren. Sie hatten erfahren, dass in dieser Baracke Gebete stattfanden und waren von überall her gekommen, bis die Baracke überfüllt war. Niemand, der die Kol Nidrei – Nacht im Waldlager erlebt hat, wird sie für den Rest seiner Tage vergessen.
Mit einer sanften hallenden Stimme begann der Rebbe Kol Nidrei. Die Versammlung begleitete ihn mit einem tiefen Summen, das sich zu einem Klagegesang steigerte, als wenn alle Herzen alles herauslassen würden. Durch den Klagegesang fuhr die Stimme des Rebbe fort: „V’asurei, V’shevuei, V’charumei.“ Nun konnte der Tränenschwall nicht mehr zurückgehalten werden. Er erinnerte uns an Kol Nidrei-Nächte in unsrer früheren Heimat, im Kreis der Familien, in unseren Synagogen und beschworen zur selben Zeit herauf, was unseren Familien, Häusern und Synagogen passiert war, nicht wissend, was das Morgen für uns bereit hielt – oder ob wir je aus dieser Hölle befreit würden. Deshalb weinten wir alle. Der einzige, der nicht zusammenbrach war der Rebbe, dessen Stimme immer stärker wurde. Wenn er sang „M’yom Kippurim T´Zeh, Ad Yom Kippurim Haba Aleinu L’tovah“, schien es uns allen, dass er hoffnungsvoll wurde und dass er eine böse Entscheidung ausgelöscht hatte. Er fuhr mit einer klaren und ermutigenden Stimme fort: „Sh’vikin, Shivitn, B’talin U’mvatalin, Lo Sh’irin V’lo Keiyamin.“
Wir waren alle so vertieft, dass nicht einmal der eine, der draußen Wache stand merkte, dass der Lagerälteste gekommen war und fragte. „Was geht hier vor?“ Als es ihm erklärt wurde, verstand er es, weil er selbst ein Häftling war, aber er bat uns, uns aufzulösen, bevor es die Wachen bemerken würden und es als einen Akt des Aufstandes verstehen würden, der tragische Folgen haben könnte. Wir hörten auf und kehrten zu unseren Baracken zurück, jeder mit einem tiefen Schmerz im Herzen. Unsere Wunden waren geöffnet worden und unser Leiden war mehr zu spüren als zuvor. Wir stahlen uns zu unseren Baracken zurück, legten uns auf unsere harten Bretter hin und wälzten uns lange hin und her, bevor wir einschliefen.
Viel ist über die „guten Deutschen“ gesagt worden. Es wurde vorgeschlagen, dass nicht alle Deutschen degeneriert waren und die Nazi-Mörder unterstützten. Möglicherweise waren da einige „warmherzige“ Deutsche, die die Bestialität der Nazis nicht aushalten konnten, aber sie zeigten sich uns nicht. Noch waren sie bereit gegen das Böse anzukämpfen. In den ersten Jahren des Krieges, als die Wehrmacht spektakuläre Siege erreichte und ein Land nach dem anderen besiegte, segneten alle Deutsche – sogar die guten Deutschen – ihren Führer, der ihre Demütigung wegwischte und sie in ein Herrenvolk verwandelte, eine große Macht in der Welt. Sie vergaben ihm gerne alle seine Sünden und schlossen ihre Augen vor vielen seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im besonderen gegen das jüdische Volk. Nach dem Krieg hatte alle Deutschen eine Antwort parat: Sie hatten keine Ahnung, was die Nazis machten; sie hatten nicht protestiert oder rebelliert, weil sie die Fakten nicht kannten. Aber das ist nicht wahr. Wenn sie es nicht wussten, dann deswegen, weil sie es nicht wissen wollten. Es war es ihnen wert nichts zu wissen. Tatsache ist, dass es bekannt war, was in den Konzentrationslagern passierte und was den jüdischen Gemeinden in Europa passierte. Es waren nicht nur die SS-Truppen, die an den Aktionen beteiligt waren; das waren auch Wehrmachtsdivisionen und OT-Bataillone. Die Familien dieser Soldaten müssen sicher gewusst haben, was passierte. Ich will von einem solchen Fall erzählen:
Während ich im Stallkommando war, wurde ich oft dem Abwasserwagen zugeteilt. Er hatte einen Tank und eine Pumpe. Ich musste die Abwässer aus verschiedenen Latrinen pumpen und auf die Felder als Dünger ausbringen. Ein SS-Mann begleitete mich immer. Vielleicht hatte die Bauersfrau Mitleid, die mich jeden Tag arbeiten sah, ohne dass ich etwas zu essen hat, oder vielleicht wollte sie sich irgendein Alibi zulegen – d.h. sie wollte in der Lage sein zu sagen, dass sie einem jüdischen Häftling geholfen hat. Zu dieser Zeit war es offensichtlich, dass Hitler den Krieg verloren hatte und viele Deutsche versuchten gute Taten zu leisten, so dass sie Zeugen für ihre Menschenliebe gegenüber uns hätten. Die Bauersfrau ließ drei Äpfel am Feldrand und signalisierte mir, dass sie für mich waren.
Auf dem Rückweg hob ich sie auf und aß sie. Der OT-Mann sah das. Zurück im Lager, gerade als ich die Pferde abgeschirrt hatte, wurde ich in das SS-Hauptquartier gerufen, wo ich angeklagt wurde, Nahrungsmittel von der Zivilbevölkerung angenommen zu haben, was gegen das Gesetz war. Für diese Sünde, verdiente ich eine Kugel in den Kopf. Zum Glück für mich benötigte der Obersturmbannführer meine Hilfe, so beschützte er mich. Ich wurde nur verwarnt, dass im Wiederholungsfall ich meine fällige Strafe bekäme.
Ich pumpte auch die Toilette im zentralen Kommandohaus der OT aus. Dies war ein großer Platz, umgeben von Baracken. In diesen Baracken waren die Offiziersbüros. Die Fenster gingen auf die freie Fläche. Immer wenn ich kam, um die Abwässer auszupumpen, stand eine nichtjüdische Frau am Fenster und beobachtete mich bei der Arbeit. Sie rief auch ihre Freunde zu kommen um mir zuzuschauen, als wenn ich ein exotisches Tier wäre, aber sie traute sich nie etwas zu essen zu mir herauszuschicken. Sie liebte es nur, einem jüdischen Häftling beim Leeren der Toiletten zuzusehen. Über diese Frau später mehr.
Ja, viele Deutsche fühlten mit uns und schauten mitleidig auf uns, aber sie machten nichts, um unser Leiden zu erleichtern. Sie wussten, was in den Lagern passierte. Sie beobachteten uns Häftlinge auf der Hauptbaustelle. Früh im Krieg spürten sie, das unser Leiden notwendig war, um die Vision des Führers eines Tausendjährigen Reiches zu erfüllen. Später, als sie bemerkten, dass sie den Krieg verloren hatten, fühlten sie Mitleid mit uns, aber sie machten nichts, um uns zu helfen. Es war praktisch für sie zu sagen, dass sie nichts gehört und gewusst hatten.
61 Der letzte Winter im Konzentrationslager
Der letzte Winter im Lager war rau. Die Kälte und der Schnee durchdrangen unsere Knochen, verursachten Krankheiten und oft den Tod. Die Deutschen konnten nicht länger Nahrungsmittel von anderen Ländern stehlen und es gab zu wenig Leute, die auf den Feldern arbeiten konnten. Da die Ernte von den Feldern der Deutschen nur reichte, um die Armee zu versorgen, litt die Zivilbevölkerung auch Hunger. Als Folge wurden die Lager unterversorgt und die Häftlinge starben wie die Fliegen.
Die Schwachen und Kranken wurden nicht mehr zu den Gaskammern und Krematorien transportiert. Sie wurden zurückgelassen um in ihrem Leiden zu sterben. Das Spital war überbelegt mit Fällen von Typhus, Durchfall, Blutarmut und Blutvergiftung. Es gab einen Mangel an Medikamenten und Verbandszeug, so dass die Kranken und Verletzten dahinsiechten bis sie starben. Wir Häftlinge sehnten uns danach, wenigstens so lang zu leben, dass wir den Tag der Befreiung erreichten, einfach um zu wissen, dass unsere Quäler und Feinde besiegt waren, aber der Tod zeigte oft nicht diese Gnade. Es war oft meine Aufgabe, die Toten zum Massengrab zu bringen, eine große Grube tief im Wald. Hier wurden die Toten hineingeworfen, wie man Abfall wegwirft und dann mit gebranntem Kalk zugedeckt. Alle paar Tage wurde eine weitere Wagenladung Toter hinausgebracht.
Wir im Stallkommando waren am besten dran von allen Häftlingen, weil wir uns Nahrung von den Pferden und Ochsen schnappen konnten. In das Pferde- und Ochsenfutter waren getrocknete Rüben hineingemischt. Wir kauten die und schmuggelten auch welche weg für unsere Freunde. Immer wenn wir in die Dörfer für Vorräte fuhren, organisierten wir für uns ein paar Kartoffeln, Karotten und rote Rüben.
Die SS hielt in ihrem eigenen Stall Schweine. Eines Tages kam ich von der Schreibstube mit der Nachricht zurück, dass eines der SS-Ferkel krank geworden war. Der Obersturmbannführer sagte mir, dass ich den Kapo des Stalles fragen sollte, ein Spezialist in Rinderzucht und Tierzucht, was man mit dem kranken Ferkel tun sollte. Diese Nachricht brachte Freude in das Stallkommando und wir machten schnell Pläne, wie wir das kranke Schwein als Nahrung für uns „befreien“ konnten.
Am folgenden Tag nahm der Kapo Krakowsky mit mir in den Schweinestall. Das Ferkel lag auf dem Boden mit trüben Augen und atmete schwer. Das andere Schwein stand weiter weg und starrte es an. Krakovsky schaute das Ferkel an, als sei er ein Experte, untersuchte es von allen Seiten und erklärte, dass es nicht dort bleiben dürfe, denn noch einen Tag länger und es bestünde die Gefahr der Ansteckung. Es sollte sofort getötet und vergraben werden. Der Obersturmbannführer bat den Kapo sich darum zu kümmern. Wir brachten es in unseren Stall und schlachteten es in dieser Nacht. Der Kapo kümmerte sich selbst um diese Aufgabe, mit Hilfe von zwei Metzgern.
Am nächsten Tag fuhr ich mit meinem Pferd und dem Wagen hinaus, um Kohle für das Lager zu laden. Als ich zurückkam, fand ich eine festliche Stimmung vor. Vorbereitungen für ein Fest waren gemacht worden. Jemand spülte einen Pferdeeimer aus und das aufgeschnittene Fleisch wurde hineingelegt. Der Eimer wurde dann mit Wasser gefüllt und auf das Feuer gestellt. Von Zeit zu Zeit schauten wir nach, wie der Kochvorgang vorankam. Der Kapo ließ aber keinen nahe heran, in seinen Augen war das seine „heilige“ Pflicht. Als das Fleisch fertig war, setzten wir uns auf den Boden und der Kapo gab jedem seine Portion. Es ist schade, dass kein Künstler da war, um diese Szene zu malen. Wir schauten wie Höhlenbewohner aus. Unser Gesicht glänzte vor Fett und unsere Augen leuchteten wie in Ekstase.
Aber sogar im Stall gab es Dinge, die nicht gut waren. Oft musste schwierige und schmerzhafte Arbeit erledigt werden. Einmal transportierte ich eine Wagenladung Steine durch den Wald ins Lager. Als die Ziegel verladen waren, war es schon Nacht. Ich trieb die Ochsen an, weil ich selbst hungrig war und fror. Die Kommandos waren bereits ins Lager zurückgekommen und die Nacht war schon hereingebrochen. Die SS-Wache kochte vor Wut und verfluchte das verdammte Wetter. Er wollte schneller in der warmen Kantine zurück sein und so schrie er: „Mach, mach Junge, dass wir schnell fortkommen!“
Anscheinend verstanden die Ochsen nicht deutsch, denn sie reagierten nicht auf meine Bitten und die Befehle des Wachmannes. Sie waren auch hungrig und müde, deshalb gingen sie langsam. Als ich sie mit der Peitsche antrieb, dass sie schneller würden, blieben sie ganz stehen und weigerten sich zu bewegen, ich weiß nicht warum. Vielleicht war es auch mein Fehler – ich hatte keine Erfahrung mit Ochsen. Ich hatte ihnen den ganzen Tag nicht genügend zu fressen gegeben und hatte sie zu wenig vor der Kälte geschützt. Ich versuchte sie anzuflehen. Sie schüttelten nur ihren Kopf als wollten sie sagen: „Reg uns nicht auf!“
Nun wurde die SS-Wache so wütend, unfähig den Hunger und die Kälte zu ertragen. Er nahm einen Ast und begann die Ochsen so brutal zu schlagen, dass sie von seinen Schlägen ausbrachen und tief zwischen die Bäume hineinliefen. Wenn die Bäume nicht gewesen wären, wären sie noch weiter gelaufen, so liefen sie nur so weit sie konnten und blieben stehen. Aus ihren Mäulern kam Dampf heraus und Geifer rann heraus. Sie zeigten alle Zeichen, dass sie mit ihrer Leistung zufrieden waren.
Die Situation war ernst: um diese späte Stunde war es unmöglich, um Hilfe zu rufen. Der SS-Mann wurde wild, aber was konnte er mit diesen rebellischen Ochsen tun? Wir besprachen die Situation und beschlossen, dass wir den Wagen dort lassen mussten, wo er war und die Ochsen ins Lager zu bringen. Wir kamen sehr spät in der Nacht ins Lager, hungrig, verfroren und zitternd. Ich hatte auch Angst, bestraft zu werden, denn mit den Ochsen konnte man es nicht tun. Tiere waren für die Deutschen viel wichtiger als Menschen. Wenn ein Mensch starb, dann schenkten die Deutschen dem keine Beachtung, aber wenn ein Tier verletzt wurde, Gnade Gott. Zum Glück kam ich auch dieses Mal mit dem Schrecken davon.
Er war kein ausgebildeter Stallknecht, also kannte ich nicht alle Verhaltensweisen der Tiere. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass Esel eigensinnige Tiere sind und von hinten angreifen. Eines Tages nahm ich das Zaumzeug herunter und einer der Esel gab mir einen wilden Tritt mit seinen Hinterbeinen. Fünf Zentimeter weiter und er hätte mich getötet. Meine Freunde, die ausgebildeten Stallknechte sahen das und lachten mich aus – den Narren, der nicht das einfachste wusste, wie man einen Esel behandelt.
Obwohl ich unerfahren mit Tieren war, behandelten mich meine Kollegen vom Stall recht anständig und betrachteten mich als einen besseren Menschen, der wenig über Pferde und Esel wusste, aber eine Menge mehr über andere kulturelle und politische Dinge. Sie respektierten mich hauptsächlich, weil der Kapo auf meiner Seite war und mich oft zu Rate zog. Krakovsky war stolz, dass „Prominente (Häftlinge) des Lagers“ in seinen Stall kamen, um zu erfahren, was politisch lief und Neuigkeiten über den Krieg zu besprechen.
Ich arbeitete mehrere Male in der Woche in der Schreibstube. Deshalb konnte ich alte Blätter der Zeitungen sammeln, die zum Einwickeln benutzt worden waren. Später wollte ich diese Fetzen lesen, um zu erfahren, was außerhalb des Lagers vor sich ging. Die deutschen Zeitungen sagten nicht die ganze Wahrheit, weil sie die Zivilbevölkerung nicht demoralisieren wollten. Aber ich konnte zwischen den Zeilen lesen.
Im August 1944 wusste ich, dass die Alliierten in der Normandie im frühen Juni gelandet waren. Wenn die Deutschen über heftige Kämpfe schrieben, und „schwere Verluste verursacht durch die Feinde“, verstand ich, dass sie in großen Schwierigkeiten waren. Wenn sie schreiben, dass dank der guten Beziehungen zwischen einem schwedischen Generalkonsul und dem deutschen General von Scholz, die Zerstörung von Paris vermieden worden war, verstand ich, dass die Franzosen Paris zurückerobert hatten. Im September 1944 fand ich einen Zeitungsabschnitt auf dem geschrieben stand: „In Übereinstimmung damit, was ein paar Tage vorher angekündigt worden war, findet nun der dramatische totale Kriegseinsatz statt. Alle Theater, Zirkusse, Konzerte, Ausstellungen und Kongresse, und das ganze kulturelle Leben fallen weg.“ Derselbe Artikel merkte an, dass keine Bücher mehr gedruckt würden, ausgenommen Lehrbücher. Sogar die beliebte Nazipublikation „Kraft durch Freude“ stellte ihr Erscheinen ein. Es war mir dann klar, dass die deutsche Wirtschaft zusammenbrach.
Ich erzählte später einer Gruppe von Freunden davon, Leuten denen ich vertraute. Ich kommentierte dann, dass die Wehrmacht bald besiegt sein würde, obwohl sie noch gutausgerüstete Divisionen hatte, eingeschlossen die bewaffneten Divisionen, aber es fehlte ihr an Rüstungsgütern und die Deutschen hatten keine ausgebildeten Arbeiter übrig gelassen, um den Krieg zu unterstützen. Außerdem bombardierten die Alliierten die deutschen Industriegebiete und seine Häfen und Eisenbahnwege. Dies lähmte das deutsche Transportwesen und isolierte die Fronttruppen von den wichtigen Nachschubgütern.
Im Dezember 1944 kündigte ein militärischer Bericht an: „ Starke deutsche Kräfte sind an einer langen Front im Westen nach einem kurzen aber starken Gefecht und sind nun in der Offensive, um den Feind aus den deutschen Gebieten zu werfen.“ Aber die Deutschen glaubten solche Geschichten nicht mehr. Sie wussten, dass sie auf strenge Moral und Kampfeswillen angewiesen waren. Sie glaubten nicht mehr, dass sie gewinnen würden, und verloren ihren Glauben an den Führer. Ihre finsteren Blicke und sauren Gesichter wurden immer mehr bemerkbar. Nur die fanatischsten Nazis glaubten noch an das Wunder – dass der Führer die Deutschen von den feindlichen Haien abziehen würde und sie zu einem Endsieg führen würde.
Die Nazis waren bitter enttäuscht und ließen ihren Ärger an den Lagerinsassen aus, indem sie sie schlugen und quälten. Die Nahrungsrationen schrumpften. Kein Fleisch wurde mehr verteilt und Fett und Brot wurden auch rar. Gleichzeitig wurden die Häftlinge zu härterer Arbeit denn je auf dem unterirdischen Hangar angetrieben. Die Bombardierungen wurden jeden Tag und Nacht heftiger und die Deutschen hatten Angst den Hangar so schnell wie möglich fertig zu stellen, um ihre letzten Flugzeuge vor den Angriffen zu schützen. Unter dem schärferen Regiment starben die Häftlinge wie die Fliegen. Die Spitale waren überbelegt, manche waren krank mit schweren Krankheiten, während andere einfach nur zusammengebrochen waren. Es gab keine medizinische Versorgung für niemanden.
Gerüchte verbreiteten sich im Lager, dass das Kriegsende nahe war und die Befreiung nicht weit weg. Traurigerweise würde viele, die diese Nachricht hörten, diesen Tag nicht erleben. Uns kam zu Ohren, dass Jugoslawien und Griechenland befreit worden waren. Im Dezember brachte ich die Nachricht mit, dass Budapest von den Russen umzingelt war. Als die ungarischen Juden hörten, dass die Nazis aus ihrer stolzen Hauptstadt vertrieben würden, lebte ihr Patriotismus wieder auf; sie sangen den patriotischen Song und flüsterten „Pest ...Pest“ mit Freude in den Augen.
Ich war dort, als ein französischer Jude in seinem Todeskampf lag und sein Todesröcheln aushauchte. Einer von uns wollte ihn ermutigen, um in ihm den Willen zum Überleben zu wecken und so berichtete er ihm, dass Paris befreit worden war. Bei dieser Nachricht leuchteten seine Augen auf und mit einem fiebrigen Flüstern sagte er: „Paris, Paris, das Herz der Welt“. Sofort danach starb er mit einem Lächeln auf den Lippen.
Am letzten Sylvester des Krieges am 31. Dezember 1944 sprachen der Führer – möge sein Name ausgelöscht werden - und sein Propagandaminister Goebbels zum Volk, um in ihm den Geist zum Weiterkämpfen zu wecken. Zu dieser Zeit hatte die deutsche Wehrmacht nicht einmal mehr zwei Millionen Soldaten. In Österreich und Italien allein waren 22 Divisionen, etwa 900 000 Mann. V2-Raketen wurden nach England geschossen, obwohl sie nur sporadisch Zerstörungen anrichteten. Deutsche Soldaten hatten keinen Kampfeswillen mehr. Sie verstanden, dass die Niederlage drohte und dass alles in Staub zerfiel. Zu dieser Zeit war die deutsche Luftwaffe zusammengebrochen. Ihre Flugzeuge konnten die alliierten Bomber nicht mehr davon abhalten, Bombenteppiche auf deutsche Städte zu werfen. Die Alliierten griffen auch militärische Ziele an, Eisenbahnstrecken, Flughäfen und Rüstungsfirmen. Mit ihrer neuen Radartechnologie, konnten sie ihre Angriffe genau zielen, sogar unter den schlimmsten Witterungsbedingungen.
Eines Tages bekam unser Lager einen dringenden Anruf, ein Kommando mit Zwangsarbeitern zur Säuberung des Münchner Bahnhofs zu schicken, der schwer bombardiert worden war. Schnell wurde ein Kommando zusammengestellt. Ich dachte, dass das eine interessante Arbeit wäre, so arrangierte ich es mitzugehen. Wir wurden mit dem Zug nach München gebracht.
Das war ein wundervolles Spektakel für uns. Wir erreichten München in der Dämmerung, während die Leute auf dem Weg zur Arbeit waren. Es gab keine junge Leute zu sehen und sehr wenige Männer – nur alte Leute, die meisten von ihnen Frauen. Die jungen Leute waren alle an die Front geschickt worden. Die Gesichter, die wir sahen, waren alle bedrückt von den zu vielen Nächten in den Kellern. Als sie uns sahen, die Zwangsarbeiter, ließ sie die Furcht erstarren, denn sie sahen nun ihre Niederlage.
Wir waren glücklich mit dem, was wir sahen: zerbombte Straßen, ausgebrannte Hochhäuser überhäuft mit verbogenen Armierungseisen und mir Decken, die herunterhingen. Es erinnerte uns sehr stark an das Warschauer Ghetto. Unser Durst nach Rache war gestillt – das war die Rückzahlung der Zerstörung der jüdischen Straßen und Häuser.
Tote und Verwundete wurden aus den zerstörten Gebäuden getragen. Frauen weinten und rangen die Hände. Ihre Häuser waren zerstört, ihre Nächsten und Liebsten getötet oder verletzt, ihr Besitz zerfiel in Staub und Asche.
Der Bahnhof war am Tag zuvor bombardiert worden. Wir sahen Zugwracks, mit den Rädern nach oben. Rot-Kreuz-Krankenwagen rasten vorbei. Schwer verletzte Leute wurden herausgetragen. Auf den Schienen lagen Waren verteilt: Mehl, Kartoffeln, Zucker, Maschinenteile usw. Wir wurden angewiesen, die verstreuten Vorräte einzusammeln, Kisten und Säcke mit ihnen zu füllen und sie in den Lagerbereich zu bringen. Wir machten das mit großer Befriedigung. Ich ging geradewegs auf die zerrissenen Tüten mit Zucker zu und stopfte mich damit aus und dann füllte ich meine Taschen. Andere von uns, gingen schnell zu den verstreuten Kartoffeln und aßen sie roh. So waren wir doppelt gesättigt: von dem Anblick der Zerstörung und von den Lebensmitteln. Alles war süß in unseren Mündern und in unseren Seelen.
Wir erinnerten uns dann, dass alle Sünden bestraft werden. Es war schade für die Millionen von Opfern der Nazis, dass es zu spät war, das zu sehen. Ihre verletzten Herzen würden gelindert werden. In den Ruinen, in denen unsere Mörder einst gelebt hatten, die dann unsere eigenen Heime zerstört hatten. Nun ließ sie Gott dafür zahlen. Wir arbeiten den ganzen Tag schnell, als wenn uns neue Stärke ergriffen hätte. Wir konnten nicht miteinander reden, denn wir wurden zu genau beobachtet, aber unsere Blicke sagten mehr als genug.
Am Abend sollten wir in das Lager zurückkehren, aber bevor wir den Zug besteigen konnten, begannen die Sirenen, das Signal, dass ein neuer Angriff begann. Die Deutschen flohen in Panik in die Bunker. Unsere Wachen suchten auch Schutz, aber wir Häftlinge weigerten uns, uns zu beeilen: wir wollten sehen, was hier am Bahnhof passieren würde. Die Wachen stießen Flüche auf uns aus, aber wir ließen uns Zeit. Wir fühlten uns, wie wenn wir schreien würden: „Lasst uns allein. Das sind unsere.“
In den folgenden Tagen wurde die Luftangriffe immer mehr und kamen immer öfter und stärker. Wenn es neblig war, hörten wir nur das Röhren der Flugzeugmotoren und die Bombenexplosionen. Für uns war das die schönste Musik, denn wir wussten, diese Motoren brachten uns der Befreiung näher. An klaren Tagen können wir die Silbervögel am Himmel zu Hunderten sehen. Sie beherrschten den Himmel; den Deutschen fehlten die Flugzeuge, sie zurückzuschlagen. Flakgeschütze versuchten die Flugzeuge herunterzuschießen, aber ihre Reichweite war nicht weit genug.- die Silbervögel stiegen zu hoch auf. Sobald sie sahen, wo das Feuer herkam, stießen sie herunter um es zum Schweigen zu bringen. Das war die schönste Ansicht, die ich je gesehen hatte und bis heute kann ich mich daran perfekt erinnern. Für uns schauten die alliierten Squadronen wie Gottes eigene weiße Engel aus, von ihm ausgesandt, um unsere Quäler zu bestrafen, die versucht hatten, unser Volk auszulöschen. In der Nacht frohlockten unsere Seelen als wir die Explosionen hörten. Unsere Hütten und Bunker wurden geschüttelt.
Es war offensichtlich, dass der Krieg zu Ende ging, dass die Deutschen ihn verloren hatten und dass die Freiheit nahe war. Als ich meinen Kopf auf die schmutzige Strohmatratze legte, betete ich zu Gott, dass er mich den Krieg überleben ließ, wenn auch nur für einen Tag, so dass ich mit meinen eigenen Augen die totale Niederlage von Hitlers Reich sehen könnte. Ich betete um die Chance, das Lager als freier Mann zu verlassen, mich satt zu essen und in einem sauberen Bett zu schlafen. Ich hatte Angst, dass uns die Bastarde nicht überleben ließen, dass sie uns auslöschen würden, um keine Zeugen zurückzulassen. Das Gerücht verbreitete sich im Lager, dass die SS einen Plan für den Notfall hatte: wenn die Situation kritisch würde und das Ende näher käme, würden sie uns in den Wald schicken und uns abschießen. Wir wollten unbedingt leben.
Einige der Wachen verstanden die Situation und änderten ihre Haltung gegenüber uns. Sie zeigten ein bisschen Menschlichkeit zu dem Zweck, sich in unseren Augen zu rehabilitieren. Manchmal richteten sie freundliche Worte an uns und manchmal gaben sie uns ein Stück Brot. Aber es gab andere Nazis, die immer noch den Führer als Gott anschauten und glaubten, er würde ein Wunder vollbringen und sie zu neuen Siegen führen würde. Die Russen hatten von einem Wunder in Stalingrad profitiert, warum dann nicht die Deutschen in München oder Frankfurt? Diese Wachen ließen all ihre Bitterkeit und Frustration an uns aus. Sie quälten und schlugen uns. Sie beharrten darauf, dass sie den Krieg verloren, weil wir nicht hart genug arbeiteten, dass wir der Grund wären, warum sich machtlos wären, irgendetwas, gegen die Stahlvögel zu tun, die nun den Himmel beherrschten. Sie konnten die alliierten Streitkräfte nicht besiegen, aber sie hatten noch die Stärke, die ungeschützten Häftlinge fertig zu machen.
Wie ich in einem früheren Kapitel erwähnt habe, fuhr ich oft mit dem Pferd und einem Wagen - begleitet von einer SS-Wache - in benachbarte Dörfer hinaus, um Nahrungsmittel für das Lager zu sammeln: Mehl, Kartoffeln, rote Rüben und heiße Suppe. Eines Tages fuhr ich zu einem Ort namens Jettenbach oder Guttenburg, ich kann mich nicht erinnern welches es war. Ich erinnere mich nur, dass wir den Inn überqueren mussten, um es zu erreichen. Dieser Fluss floss von den Schweizer Alpen nach Österreich. Wir fuhren in den großen Besitz eines Gutsbesitzers um den Wagen mit Kartoffeln vollzuladen.
Zur Mittagszeit waren meine Wache und ich hungrig, deshalb wies er mich an, das Pferd auszuschirren und es zu füttern. Ich selbst sollte gehen und mich in die Scheune setzen. In der Scheune war eine Türe, die direkt in das Haus des Besitzers führte. Ein andere Türe ging auf einen großen rechteckigen Hof hinaus. In der Scheune waren Behälter mit Getreide, Kartoffeln und Obst und auch Ställe für das Vieh und die Pferde. Die oberen Etagen des Lagerhauses und der Ställe waren mit Heu und Stroh gefüllt; hier liefen auch Hennen herum und es gab auch Laufställe für Gänse und Enten. Außerhalb wurden Wagen und Pflüge abgestellt, die zugedeckt waren, so dass der Regen sie nicht durchfeuchten konnte.
Die Wache wollte mich nicht allein lassen, für den Fall, dass ich flüchtete, deshalb bat er eine alte Dienstmagd auf mich aufzupassen, während er mit dem Besitzer beim Essen war. Ich saß dort und dachte über mein Schicksal nach und wie ich überleben könnte, bis die Alliierten uns befreiten. Die Dienstmagd beobachtete mich die ganze Zeit genau. Durch die offenen Tür sah sie, dass die SS-Wache in tiefen Diskussionen mit dem Besitzer war und bei seinem zweiten Seidel Bier. Als sie das sah, rutschte sie langsam zu mir her und legte neben mich zwei Äpfel und ein Stück Weißbrot.
„Versteck das“, sagte sie. „Das ist für dich.“
Ich versteckte sie sofort. Und anstatt mich zu verlassen, wie ich erwartete, schaute sie mich mit glitzernden Augen an und sagte: „Der Krieg wird nicht mehr lang dauern.“
Ich starrte sie erstaunt an, weil ich wusste, dass sie noch mehr sagen wollte. Um sie zu ermutigen, abtwortete ich: „Mögen deine Worte wahr werden, Frau!“
„Sie kam noch näher heran, nahm einen weiteren Apfel aus ihrer Schürze und gab ihn mir.
„Du bist so jung“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Du hast nicht gelebt, sondern nur so viel gelitten. Es würde sehr schade sein, wenn du so jung stirbst, wenn der Krieg zu Ende geht.“
Ihre Worte berührten mich tief. Es war das erste Mal seit dem Kriegsanfang, dass ich so ein Mitgefühl von einem Nichtjuden erlebt hatte. Tränen stiegen mir in die Augen. Die Frau nahm ihren Mut zusammen und sagte: „Rette dich, junger Mann! Es wäre eine Schande für dich, umzukommen. Ich weiß von einer verlässlichen Quelle, dass ihr alle ermordet werdet, erschossen, so dass ihr nicht mehr lebt, um befreit zu werden. Rette dich selbst. Lauf weg!“
Ich war von diesem Gespräch fassungslos. Ich kämpfte mit den Tränen, als wenn sie meine Mutter wäre: Ich würde weglaufen, aber wohin kann ich mit meinen Häftlingskleidern laufen? Ich würde sofort entdeckt und gefangen. Und dann würde ich sicher in den Tod geschickt. Ich habe schon so viel erlebt, so viel ausgehalten, dass jetzt, wo wir so nahe dran sind, befreit zu werden, soll ich jetzt mein Leben riskieren und versuchen zu flüchten, wenn ich nicht weiß, wo ich hinlaufen soll oder wer mir helfen würde?“
„Lauf weg und komm in unser Dorf. Finde einen Weg auf unseren Hof. Geh sofort in den Heustock und versteck dich dort. Ich werde dich nicht verhungern lassen. Vielleicht kommst du dadurch durch diese gefährliche Zeit. Verstehst du mich?“
Sobald sie fertig gesprochen hatte, eilte sie zurück ins Haus, wie wenn sie vor ihren eigenen Worten Angst hätte. Kurz danach kam meine Wache heraus, rotgesichtig von dem Bier. Er warf mir ein paar Stücke altbackenes Brot und etwas Butter zu.
„Du bist lange genug auf der faulen Haut gelegen“, sagte er. „Lade jetzt die Kartoffeln auf.“
Ich verlud die Kartoffeln, schirrte die Pferde an und fuhr davon. Die Dienstmagd verfolgte mich mit ihren Blicken. „Auf Wiedersehen“, sagte ich zu ihr mit einem freundlichen Lächeln.
Ich verließ den Hof schockiert, wegen des Angebotes der alten Frau, mir zu helfen und wegen der Warnung, die sie mir gegeben hatte, dass unser Ende schon geplant war. Ich konnte nicht aufhören an ihren Vorschlag zu denken, dass ich mich in ihrem Heustock verstecken sollte. Ich fragte mich, wie man das machen konnte. Auf dem Rückweg spann ich alle möglichen Gedanken und Pläne. Ich war so vertieft in meine Gedanken, dass ich nicht bemerkte, dass unser Pferd einen anderen Weg genommen hatte. Die Wache bemerkte es, bevor ich es merkte und begann mich zu verfluchen. Aber bald beruhigte er sich wieder, nachdem wir Sirenen hörten und etliche Squadronen von alliierten Flugzeugen näherkommen sahen. Er sprang vom Wagen herunter und zog mich mit ihm in den Wald. Ich wollte lieber die Flugzeuge beobachten und hatte keinen Wunsch, mich zu verstecken, aber die Wache richtete sein Gewehr auf mich und befahl mir, ihm zu folgen. Nachdem der Angriff vorbei war, sah ich, wie schlau es für uns war, uns im Wald zu verstecken: Die Kartoffeln auf unserem Wagen waren von Maschinengewehr-Kugeln durchsiebt.
Als ich in das Lager zurückkam, erzählte ich niemanden, was mir passiert war. In dieser Nacht kam mein Verstand nicht zur Ruhe. Ich lag wach und machte Pläne für meine Flucht. Ich fragte mich, ob es sinnvoll wäre, jemand dabei zu haben. Ich fragte mich, was die Motive der Dienstmagd waren. Wollte sie sich nur ein Alibi für die Zeit nach dem Krieg verschaffen? Warum wollte sie einen Häftling vor dem Tod bewahren? Wenn es wirklich ein menschlicher Akt von ihr war, warum waren dann nicht mehr Leute wie sie? Warum hatte mir kein Deutscher vorher geholfen? Wo waren sie versteckt, diese „menschenfreundlichen“ Leute? Andererseits glaubte ich an die Ehrlichkeit und Anständigkeit der Frau; sie riskierte ihr eigenes Leben, um mir zu helfen.
Vielleicht als Hitlers Armeen einen Sieg nach dem anderen einfuhren und als es schien als könnten sie die ganze Welt beherrschen, gaben diese selben „guten“ Leute vor, nichts zu sehen und wollten nicht ihr Leben riskieren. Nun näherte sich das Ende der Nazis und die deutsche Nation war dabei zerstört zu werden und die „kleinen“ Leute riskierten uns zu helfen, um zu beweisen, dass sie keine Nazis gewesen waren. Und vielleicht indem sie ein paar Häftlingen vor der Vernichtung bewahrten, würden sie auch ihren Besitz vor dem Plündern schützen und sich selbst davor, ermordet zu werden.
Was immer die Dienstmagd motivierte, die Tatsache blieb, dass zum ersten Mal mir jemand Hilfe angeboten hatte. Ich überlegte Plan für Plan, um aus dem Lager zu flüchten. Die Umgebung war voll von Soldaten, Gestapo und SS und immer mehr, je näher die Front kam. Bei meinen Versorgungsfahrten in die Dörfer, begegnete ich oft Fremdarbeitern – Polen, Jugoslawen, Rumänen, Ukrainer und Ungarn – die als Zwangsarbeiter von den Deutschen „importiert“ worden waren. Sie wollten sich auch befreien und in ihre Heimat und zu ihren Familien zurückkehren, deshalb würde es vielleicht wertvoll sein, mit ihnen in Kontakt zu bleiben und als Gruppe zu flüchten. Diese „auswärtigen“ Zwangsarbeiter waren wenigstens zur Hälfte frei. Sie hatten mehr Bewegungsfreiheit. Vielleicht könnten wir eine Partisanengruppe gründen!
Jede Nacht geisterten diese Ideen durch meinen Kopf. Alpträume und Träume begannen mich zu quälen. Ich träumte, dass ich weggelaufen war, dass ich gejagt wurde und dass auf mich geschossen wurde und ich begann zu schreien. Meine Mitbewohner schüttelten mich wach und fragten: „Was fehlt dir?“
„Nichts“, sagte ich. „Ein irrer Traum hat mich aufgeregt.“
Der Frühling 1945 begann sehr früh, als wenn er sicherstellen wollte, dass die Alliierten in der Lage wären, alle ihre Operationen schneller auszuführen. In der Schreibstube I wurden die Übergabedokumente vorbereitet, aber ich dachte nur daran, was ich tun sollte – meine Ohren waren auf Nachrichten von den Fronten ausgerichtet. Ich konnte aus den Gesichtern der Deutschen lesen, dass die Situation düster war. Sie liefen ängstlich und geistesabwesend herum. Der Obersturmbannführer schaute erschöpft und depressiv aus. Er hörte wahrscheinlich jede Nacht Radio und hatte wahrscheinlich auch andere Kontakte, so dass er nicht ausgeruht war. Er war ärgerlich und traurig.
In der Schreibstube hielten sie die Türen geschlossen, so dass ich den Radio nicht hören konnte, aber aus der Körpersprache der Wachen und von ihren Gesichtern konnte ich lesen, dass die Aussichten der Deutschen trostlos waren. Seit dem 10. Dezember 1944 lagen die Deutschen in der ungarischen Hauptstadt Budapest, trotz massiver Angriffe der Russen. Im neuen Jahr fand ich einen Fetzen einer Zeitung, in dem ich las, dass die Deutschen am 13. Februar 1945 Budapest aufgegeben und sich auf andere Defensivlinien zurückgezogen hatten.
Lange vorher hatte Hitler einen Befehl ausgegeben, dass, was auch immer der Preis wäre, Budapest gehalten werden musste. Er beabsichtigte aus dieser Stadt ein zweites Stalingrad zu machen; um jedes Haus musste gekämpft werden. Um zu verhindern, dass die Russen nach Österreich vorstießen, in dem sein Geburtsort liegt, sandte er seine besten Truppen zur Verteidigung von Budapest. Aber am 13. Februar, durchbrachen die Russen dort die deutschen Linien. Das beendete gewissermaßen den Krieg. An der Westfront war die Lage nicht besser. Die Alliierten beherrschten den deutschen Luftraum. Im März begannen die Briten eine Bombardierungswelle, die deutsche Industrieanlagen zerstörte, Industriezentren und Benzinlager, was die Wehrmacht lähmte.
Die größten deutschen Städte waren das Ziel beständiger Luftangriffe, Tag und Nacht, wobei Zehntausende Deutsche starben. Die deutsche oberste Heeresleitung versuchte eine Gegenoffensive zu starten, um etwas zu retten. Aber nichts, was sie entwickelten – keine V2-Raketen und keine neuen Flugzeuge – war in der Lage, die Situation umzukehren. Die Deutschen hatten die rumänischen Ölfelder verloren und ihre Raffinerien waren mit Bomben zerstört worden und das hatte ihre Flugzeuge und Panzer praktisch aus dem Krieg genommen. Es bleiben nur die Flakgeschütze um das Vaterland zu schützen. Dann, im Januar 1945 starteten die Russen ihre Schlussoffensive. Marshall Koniev begann seinen Einmarsch im Süden von Polen, Marshall Zukov in Zentralpolen und Marshall Rokozovsky in Nordpolen. Aus diesen drei Richtungen stießen sie auf das deutsche Gebiet vor. Am 19. Januar 1945 waren die Hauptverbindungslinien in Polen besetzt: Radom, Warschau, Lodz und Krakau. Rokozovski, unterstützt von der Armee von General Czerniakowski stieß nach Ostpreußen vor und erreichte den Hafen von Danzig. Und Marshall Koniew und seine Streitmacht brach nach Ober- und Unterschlesien durch und erreichte die Tore von Breslau.
An diesem Punkt, sah der Obersturmbannführer keinen Grund, den Überblick über die Futtervorräte zu behalten und das beendete meine Verpflichtungen zur Buchführung. Ich bedauerte, meine Informationsquelle verloren zu haben, aber war andererseits auch froh, dass das Ende des Krieges greifbar war. Während ich in der Schreibstube arbeitet, hatte ich Informationen ins Lager zurückgebracht, wo sie begierig erwartet wurden, genauso wie meine Kommentare. Oft klopften mir meine Freunde auf die Schulter und begannen mich zu küssen, weil ich ihnen neue Hoffnung gab. Obwohl die Behandlung, die wir bekamen, immer schlechter wurde, gaben uns die Neuigkeiten Stoff für unsere Seele, weil sie uns erinnerten, dass die Schwierigkeiten bald vorbei wären.
Die Arbeit auf der Hauptbaustelle wurde jeden Tag schwieriger. Die Deutschen waren bemüht, den Hangar fertig zu stellen, um ihre nach den Luftangriffen verbliebenen Flugzeuge zu schützen, aber die alliierten Kommandeure hatten von dem Projekt erfahren. Die Stahlvögel flogen in Gruppen von hundert in symmetrischer Formation, als wären sie eine Heerschar von Engeln. An einem Tag beobachteten wir sie, als eines von ihnen ausscherte und herunterstieß. Es schien, als wenn es genau auf unser Lager fallen würde, aber bald hörten wir eine mächtige Explosion ganz in der Nähe. Der Bomber hatte auf die Baustelle gezielt und hatten alles weggeblasen, was bis dorthin gebaut worden war. Viele Deutsche, die dort arbeiteten, wurden an diesem Tag getötet und viele meiner Freunde, die in dem Geröll begraben wurden.
Die Deutschen wollten eine starke Defensive entlang der Oder-Neiße-Linie aufbauen und in den Karpaten, aber sie konnten den Feuerregen nicht mehr aufhalten, der auf sie niederging. Die Russen waren an allen Fronten durchgebrochen. Von Budapest aus stießen sie in die Slowakei, dann nach Prag und dann nach Wien vor. Von Warschau und Radom stießen sie nach Breslau und Oppeln und Frankfurt am Main vor. Von Danzig aus marschierten sie nach Stettin und dann Richtung Hamburg vor. In der Zwischenzeit erreichten die Briten und Amerikaner das Ruhrgebiet, das Zentrum der deutschen Industrie.
Nachdem ich aus der Schreibstube weggeschickt wurde, hatte ich keine genauen Informationen über die Front mehr. Wir sahen, wie hungrig und besorgt die SS war, aber wir wussten nicht, wie weit die Alliierten vorgestoßen waren. Im Lager kamen wieder Gerüchte auf, dass uns die Deutschen tiefer ins Land verlegen würden. Es wurde auch geflüstert, dass große Gruben im Wald ausgehoben worden waren, wo wir alle erschossen und begraben würden. Jeder kam zu mir und fragte, ob das wahr sei, als wenn ich das gewusst hätte. Ich versuchte sie zu beruhigen und sagte, dass es nun unwahrscheinlich wäre, dass mit Ende ihres Regimes die Nazis ihre Schuld vergrößern würden – die allerdings schon groß genug war – um uns massenweise zu töten.
Aber in meinem Herzen zitterte ich. Ich glaubte, dass die Nazis zu so einer bestialischen Verhaltensweise fähig waren, wenn das bedeutete, dass es weniger Zeugen gäbe. Ich glaubte auch, dass sie verbittert genug waren, um ihre Rache an uns auszulassen. Nun dachte ich im Ernst daran, aus dem Lager zu fliehen. Aber als ich mein Geheimnis meinen Freunden anvertraute und fragte, ob sie mich begleiten würden, überredeten sie mich, es nicht zu tun. Ihrer Meinung nach war es besser zu warten. Vielleicht wenn die Deutschen versuchen würden, uns zu evakuieren, dann würde das die richtige Zeit sein, um abzuhauen. Sie argumentierten, dass das Regime schwächer wurde, weil viele SS-Leute an die Front verlegt wurden und durch ältere Leute von der Wehrmacht und der OT ersetzt würden. Für sie war das ein Zeichen, dass wir wahrscheinlich nicht erschossen würden.
Unser Obersturmbannführer wurde auch an die Front geschickt. Seinen Platz nahm ein Hauptmann der Wehrmacht ein. Er war ein älterer Mann, über siebzig, sehr streng und pflichtbewusst. In den letzten Tagen hatte ich Angst, dass eine Provokation unsere Liquidation zur Folge haben würde. Ich erinnerte mich, dass die Dienstmagd drüberhalb des Inns mich gewarnt hatte, welches Ende uns erwartete. Ich war nervös und verstört.
Ein Gerücht erreichte uns, dass das Stammlager schon evakuiert worden war und dass wir wahrscheinlich als nächste dran waren. In der Zwischenzeit bewegten sich die Alliierten immer näher zu uns. Berlin war eingekreist. Das Gerücht ging um, dass der Führer Selbstmord begangen hatte. Die Situation war gespannt. Wir waren in eine Zwinge eingespannt und wussten nicht, was der nächste Morgen bringen würde.
66 Der Teufel stellt mir eine Falle
Die Spannung im Lager stieg weiter an. Leute mit einer wilden Vorstellungskraft, die den Eindruck vermitteln wollten, dass sie wichtig waren – dass sie Kontakt mit den Führungspersönlichkeiten hatten – erfanden alle möglichen Fantasiegeschichten und diese Geschichten wurden von Insassen verschlungen, die Angst vor allen Neuigkeiten hatten. „Die Amerikaner haben schon das Stammlager übernommen... Hitler hat sich aufgehängt ... Wir werden in den Wald gebracht und umgebracht – die Gruben sind schon bereit für uns ....“
Unsere Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Keiner von uns konnte schlafen. Am 24. oder 25. April betrat der Hauptmann das Lager und sagte uns, dass wir uns für einen Appell bereithalten sollten und erklärte: „Ihr sollt wissen, dass der Krieg zu Ende ist. Wenn ihr ruhig bleibt, wird euch nichts geschehen. Wir werden warten, bis die Amerikaner kommen und werden das Lager ordentlich übergeben. Ich habe die Wachen bereits instruiert, dass sie die Waffen niederlegen sollen – und nur Handfeuerwaffen tragen, nur um die Ordnung aufrecht zu erhalten.“
Als wir diese Nachrichten hörten, umarmten und küssten wir uns. Die Leute wurden verrückt vor Freude. Wir wussten bereits, dass die Russen Berlin eingenommen hatten. Im Bunker der Reichskanzlei hatte Hitler Selbstmord begangen, zusammen mit seiner Geliebten Eva Braun. Eine Gruppe von Soldaten hatte rebelliert und einen Revolutionsrat aufgestellt und sich bereiterklärt auf eine absolute Kapitulation einzugehen, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Die Rebellen hatte die Kontrolle über eine Radiostation erhalten und die Kapitulation angekündigt und die Wehrmacht angewiesen, sich den alliierten Truppen zu ergeben.
Als er den Radioaufruf gehört hatte, hatte unser Hauptmann beschlossen, dass es sinnlos war, weiter zu kämpfen. Er wollte warten bis die alliierten Truppen auftauchten und dann das Lager und alle Insassen übergeben. Wir Häftlinge beschlossen ruhig und diszipliniert zu bleiben. Wir wollten jede Provokation vermeiden, die unser Leben gefährden könnte.
Wir stellten sogar unsere eigene Verantwortlichen auf.
Während dies alles ablief, kam eine Wache vom Führungskommando der Lager zu meinem Kapo des Stallkommandos für Pferde und Wägen. Zwei Ärzte mussten nach Mühldorf gebracht werden. Die meisten der Lagerinsassen waren schon abgeholt worden, aber ein paar schwierige Fälle hatte man zurückgelassen und sie brauchten Ärzte. Deshalb verlieh unser Lager zwei. Ich stand in der Nähe und hörte dieses Gespräch und zitterte um die Gelegenheit, diese Chance für diese Fahrt zu bekommen. Der Kapo registrierte meine Begierde und nannte mich als Fahrer. Nachdem die Wache gegangen war, sagte mir der Kapo, dass er mich ausgewählt hatte, weil er sich verlassen konnte, dass ich neue Nachrichten mitbringen würde.
Ich bereitete ein Pferd und einen Wagen vor und setzte die zwei Ärzte hinein, die ungarische Juden waren. Ein SS-Mann setzte sich dazu, aber unbewaffnet. Die Sonne strahlte auf meinen Kopf. Ich fühlte mich, als wenn ich innerlich kochte, dass ich vor Furcht explodierte. Ich verlor meine geistige Ausgeglichenheit. Ich konnte nicht aufhören zu reden, zu schreien, zu lachen und zu weinen. Ich wurde hysterisch. Ich sagte dem Wachmann, dass er nichts zu befürchten habe, weil er immer anständig zu uns gewesen war, und uns nie geschlagen oder gequält hatte. Ich würde ihn deshalb verteidigen. „Weshalb brauchst du deine SS-Runen noch, diese zwei schwarzen Schlangen?“ fragte ich ihn. „Reiß den Dreck herunter!“ Und ich begann die Insignien herunterzureißen. Er lächelte und anstatt mich aufzuhalten, ließ er mich weitermachen und ließ mich machen was ich wollte. „Hitler ist tot! Er bekam Schiss, der Hund, der er war! Wir sind frei! Frei! Der Krieg ist vorbei! Das Blutvergießen ist beendet! Nie mehr Zwangsarbeit“
Die Bewohner der Häuser kamen heraus um diesen verrückten Kerl anzuschauen. Sie riefen sogar: „Bravo!“
Ich wusste nicht mehr, was ich tat. Ich verlor mein Gleichgewicht vollständig. Ich rannte herum und stotterte wie ein Betrunkener. Der Wachmann versuchte, mich zu beruhigen, sprach mich sehr höflich an und schlug mir vor, mich zurückzuhalten und nicht so euphorisch zu agieren. Aber ich konnte meine Hysterie nicht kontrollieren, ich war verrückt vor Freude.
Schließlich kamen wir im Stammlager an. Hier gab es auch Feiern. Die Lagerinsassen liefen verwirrt herum, unsicher, was passierte. Die Wachen waren verärgert und niedergeschlagen und hatten Angst vor Vergeltung. Als die Insassen unseren Wagen sahen, versammelten sich die Insassen darum und löcherten mich mit Fragen. Als ich ihnen erzählte, was ich über die Situation draußen wusste, begann die Menge zu brummen wie ein Bienenstock. Einige Insassen, gaben meine Nachrichten weiter, während andere mir erzählten, was mit ihnen geschehen war. Die Mühldorfer(0Mettenheimer) Wachen baten flehend, dass sie die Insassen nicht in Gruppen versammeln sollten oder Unruhe schaffen und in ihre Blocks zu gehen. Aber niemand konnte ruhig bleiben. Jeder lief im Lager herum, um nach Nachrichten von draußen zu fragen. Als Flugzeuge drüberflogen, schauten wir alle hinauf und versuchten zu erraten, welches Zeichen sie hatten.
Nach drei Stunden in Mühldorf (Mettenheim) kehrten wir in das Waldlager zurück. Auf dem Weg zurück sahen wir Leute, die herumliefen und jeden nach neuen Nachrichten fragten. Wir sahen auch eine Menge schwer bewaffneter Soldaten auf Lastwägen oder zu Fuß. Die Front kam näher und die Deutschen zogen Gräben und warfen sich in Verteidigungsstellungen.
Auf halbem Weg nach Hause hielt uns ein OT-Mann auf und wollte mitfahren. Wir machten ihm vorne Platz. Drei von uns saßen nun zusammen, ich links, der Wachmann in der Mitte und der OT-Mann rechts. Ich hörte den beiden zu, was sie miteinander redeten. Der OT-Mann erzählte dem Wachmann die neuesten Radiomeldungen. Es hatte wirklich eine Revolte von Offizieren gegeben, aber sie war niedergeschlagen worden. Die Armee und die SS-Wachen hatten die Rebellen eingekreist, hatten sie ins Gefängnis gesteckt und wegen Verrats hingerichtet.
„Der Krieg geht weiter“ meldete der Radio nun. „Wir haben Vertrauen auf den Führer! Wir sind guter Hoffnung, dass wir den Feind bald aus unserem Land treiben werden. Der Führer bereitet eine große Frühlingsoffensive vor, die bald beginnen wird. Wir haben die feindlichen Truppen auf unser Gebiet gelockt, um sie hier besiegen zu können.“
Als ich dieses Gespräch hörte, begann sich mein Magen zusammenzuziehen und meine Gefühle schlugen Purzelbäume. Mein SS-Wachmann hatte Angst mir in die Augen zu schauen. Ich fuhr langsam und hatte keinen Grund mich zu beeilen. Mein Verstand begann wie ein Computer zu arbeiten und spann Pläne für die Flucht. Ich überlegte, sofort loszurennen, aber es war mir zu gefährlich, weil ich nun zwei Wachen dabei hatte. Außerdem kamen immer wieder deutsche Truppen vorbei, deshalb würde ich nicht weit kommen.
Aber über eines war ich sicher: Ich dürfte an diesem Tag nicht ins Lager zurückkehren. Nachdem was ich mit den Insignien des SS-Mannes gemacht hatte und nach dem Tumult, den ich in der Stadt (Stammlager?) verursacht hatte, würde ich sofort erschossen werden. Der Wachmann saß auch da wie auf heißen Kohlen. Er fühlte sich verantwortlich für die Situation, die er mir in der Stadt (Stammlager, bzw. Ampfing) erlaubt hatte. Hunderte von Leuten hatten es gesehen und es war sein Fehler gewesen, denn es war seine Pflicht, mich zu kontrollieren. Für diese Nachlässigkeit konnte er ein Standgericht erwarten. Also hatte auch er große Angst, dass ich weglaufen könnte. Er nahm einen Revolver aus der Innentasche und legte ihn vor mich hin und versicherte sich, dass ich ihn sah.
Mein Mund war trocken und mein Verstand rotierte. Ich konnte mich zu nichts entschließen. Aber ich war sicher, dass ich etwas tun musste, dass ich an diesem Tag nicht ins Lager zurückkehren dürfe.
Als ich ins Lager zurückkehrte musste ich das Pferd abschirren. Ich machte das außerhalb des Lagers, zwischen dem SS-Wachraum und dem Tor. Meine Wache verschwand in der Schreibstube. Genauso machte es ein anderer Wagen, der von einem Freund von mir im Stallkommando gefahren wurde. Er hieß Ernst und er war ein deutscher Jude von ungefähr 20 Jahren. Während wir unsere Pferdegeschirre abnahmen hatte ich ein Gespräch mit ihm:
„Ernst wir sind an einer gefährlichen Stelle. Übereinstimmend mit dem was ich erfahren habe, werden sie uns in den nächsten Tagen vernichten.“
Ernst blinzelte überrascht: „Wie kann das sein? Der Hauptmann hat uns versprochen, dass er uns den Amerikanern übergeben wird.“
„Sei kein Narr!“ antwortete ich mit wachsendem Groll. „Du glaubst nicht, was die Deutschen dir sagen? Willst du sie später Lügner nennen? Willst du sie vor das himmlische Gericht zerren und mich als Zeugen aufrufen?“
Er starrte mich ungläubig an und erwiderte scharf: „Quatsch!“
Ich versuchte ihn zu überzeugen und erzählte ihm die ganze Geschichte. Ich schmückte sie auch noch ein wenig aus, denn ich wollte ihn überzeugen, dass er mit mir käme. Es würde besser sein, wenn wir zusammen wären, dachte ich. Ich versuchte ihm zu zeigen, dass es unsere einzige Chance war, wenn wir wegliefen. Wenn wir unsere leben jetzt nicht retteten, würden sie in Gefahr sein. Ich erzählte ihm, dass ich bereits ein Versteck außerhalb des Lagers vorbereitet hatte. Ernst konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, wegzulaufen. Er dachte gründlich nach und starrte mich dann an, als ob ich verrückt wäre. Es kann gut sein, dass ich verrückt aussah, so verärgert wie ich war. Ich dachte, ich mache Fortschritte mit ihm, aber dann drehte er sich zu mir und sagte: „Mach doch keine Dummheiten, das dürfen wir doch nicht!“
Ich wurde gefährlich ruhig und versuchte etwas schärfer zu sprechen: „Wenn du darauf wartest, was du brauchst und was du nicht brauchst, dann kannst du der Welt Goodbye sagen. Brauchst du vielleicht eine Einladung?“ Ich versuchte an sein Herz und seinen Verstand zu appellieren: Wir haben so viel Leiden überlebt, mühsam überlebt bis zum Ende des Krieges. Sollen wir nun am Tag unserer Befreiung ermordet werden? Jetzt haben wir eine Gelegenheit. Wir sollten die Chance nützen, denn wir werden keine weitere bekommen.“
Ich war dran ihn zu überzeugen, aber er hatte sich noch nicht entschlossen. Wir brachten die Pferde in den Stall zurück und kamen heraus, um den Wagen sauber zu machen. Ich schaute mich um, wie wir weglaufen könnten. Wir waren mit unseren Wägen zwischen dem Lager und der Schreibstube. Um das Lager zu verlassen, müssten wir an einer Wache vorbei, die den Umkreis kontrollierte. Am Waldrand zwischen der Schreibstube und dem Stacheldrahtzaun mit dem Tor, der das Lager verschloss, war eine Art Erdwall. Ich bemerkte, dass die Wache an diesem Tag wieder ein Gewehr trug und dass die Wachtturmwachen mit schweren Maschinengewehren ausgerüstet waren. Daraus schloss ich, dass die Lage wieder ernst geworden war und dass der OT-Mann recht hatte.
Ich blickte flüchtig auf die Schreibstube, im Falle, dass sie mich noch einmal riefen. Ich zitterte vor Wut. Ich fühlte, dass mein Schicksal auf dem Spiel stand. Mein Verstand wurde so scharf wie ein Schwert. Ich ging hinüber zu Ernst und sagte: „Warte einen Augenblick, ich will mit der Wache auf dem Patrouillengang sprechen.“ Ich ging näher hin, setzte mich in die Mitte des Gebietes und versuchte die Wache in ein Gespräch zu verwickeln.
„Es hat wieder eine Veränderung geben“, sagte ich zu ihm. „Am Morgen sagte uns der Hauptmann, dass der Krieg vorbei sei und das wir nur auf die Amerikaner warten. Aber nun sehe ich, dass sich wieder etwas geändert hat, der Krieg ist überhaupt nicht zu Ende.“
„Der Krieg geht weiter“, sagte er. „Es gibt keine andere Lösung, als weiterzukämpfen.“
Ich: „Wachtmeister, du glaubst, dass der Krieg noch lange fortgesetzt wird?“
Er: „Der ganze Krieg ist ein Irrsinn, eine Falle, aus der wir uns nicht befreien können.“
Ich: „Es macht doch keinen Sinn weiterzukämpfen, wenn die Alliierten uns von allen Seiten eingekreist haben und wenn die Hauptverteidigungslinien zusammengebrochen sind. Warum dieses Blutvergießen? Wäre es denn nicht besser einen Friedensvertrag zu unterzeichnen?“
Er: „So weit ich betroffen bin, kann der Krieg heute beendet werden, so dass ich zu meiner Familie zurück kann und meine Kinder sehen und diesem ganzen Abenteuer auf Wiedersehen sagen!“
Ich: „Das ist das, was du sagst. Stell dir meine Situation vor. Es ist das fünfte Jahr, dass ich Häftling bin und Zwangsarbeiter. Ich habe meine Familie verloren, mein Haus ist zerstört, mein Besitz ist ruiniert und ich bin physisch und geistig ein Wrack.“
Er: „Es geht uns nicht besser. Viele unserer Häuser sind durch die Bombenangriffe zerstört und wie viele Millionen haben wir in Afrika und Russland verloren?“
Ich glaubte, dass ich den Panzer der Wache gebrochen hatte, dass ich sein Herz erreicht hatte, dass er aufweichte. Ich schaute mich um, um zu sehen, ob sich jemand näherte. In der Nähe stand Ernst, bereit den Wagen zu säubern und starrte verstohlen auf uns. Ich beschloss das durchzuziehen:
Ich: „Ich würde so gerne den Befreiungstag erleben. Ich bin noch jung. Ich habe viel erlitten und es ausgehalten und ich will jetzt nicht sterben, wenn der Krieg am Ende ist. Meiner Meinung nach dauert der Krieg nicht mehr lange. Vielleicht dauert er noch ein paar Tage aber sicher nicht mehr als das. Wer will sein Leben in den letzten Tagen verlieren?“
Er: „Unsinn! Das wird nicht geschehen.“
Ich: „Ja, wenn jeder so wäre wie du, dann würde ich keine Angst haben, aber es gibt andere, Fanatische, die noch in ihrer Traumwelt leben. Sie können auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen, deshalb werden sie ihr Heldentum an hilflosen Leuten auslassen. Andererseits gibt es die Möglichkeit von weiteren Bombardements. Wer sagt denn, dass nicht ein paar Bomben auch auf das Lager fallen könnten? Wenn der Krieg vorbei wäre, wie der Hauptmann heute morgen sagte, würden ein paar Tage keinen Unterschied ausmachen. Wir haben bereits genug gelitten. Wir könnten ein paar weitere Tage überstehen. Aber das scheint nur eine Illusion zu sein. Das Militär hat beschlossen weiterzukämpfen und deshalb wird der Krieg mit schrecklicher Heftigkeit auf beiden Seiten weitergehen. Wer weiß, wie lange es weitergeht und wie viele Menschen noch sterben werden?“
Er: „Ich glaube nicht, dass der Krieg lange weiter geht. Ich hoffe, dass ein Waffenstillstand geschlossen wird. Den Krieg unter diesen Umständen weiter zu führen ist verrückt.“
Ich: „ Ich wollte, das wäre richtig. Sicher, wenn Leute wie du, einfühlend und realistisch an der Macht wären, würde die Sache anders ausschauen. Das Problem ist, dass an der Spitze Fanatiker stehen, die glauben, der Führer würde ein Wunder schaffen - Leute, die kein Mitleid haben mit den Tausenden von Opfern, die jeden Tag sterben.“
Er: „Die Vernunft wird noch siegen.“
Ich: „Danke für deine ermutigenden Worte und für deine Menschlichkeit. Wir werden diejenigen nicht vergessen, die sich anständig und menschlich gegenüber uns benommen haben. Ich habe das immer zu meinen Freunden gesagt und ihnen gesagt, dass du und ein bestimmter anderer Wachmann obwohl ihr zu der SS oder SA gehörtet, nie eure Menschlichkeit verloren habt und uns freundlich behandelt habt. Wir wissen das zu schätzen und wir werden es nicht vergessen. Wenn es nötig ist, werden wir das bei jeder Gelegenheit bezeugen.“
Ich sah, dass ich ihn geschafft hatte. Ich sah an seinem Gesicht, dass er sich über meine Worte freute. Wahrscheinlich dachte jeder von ihnen darüber nach, was mit ihnen nachher geschehen würde, nachdem die Amerikaner gekommen waren und sie in Haft nähmen. Ich entschloss einen letzten Angriff zu wagen.
„Du hast uns schon viele Male geholfen. Wenn du mir nun hilfst, werde ich dir das nie vergessen. Ich will mein Leben nicht in den letzten Tagen verlieren. Wenn du mich mit meinem Freund in den Wald verschwinden lässt, dann kannst du sicher sein, dass wir deine besten Freunde und Verteidiger sein werden.“
Der Wachmann starrte mich an. Er wusste nicht war er tun sollte – entweder streng mit mir zu sein oder mich wegzujagen oder mich verständnisvoll zu behandeln. Und er wollte sicher die Chance auf ein gutes Zeugnis nicht verspielen. Er schulterte sein Gewehr, wie wenn er seine Gedanken sortieren wollte und sagte: „Komm, seid nicht dumm, ihr werdet bald befreit!“
Aber ich gab nicht auf – ich hatte gemerkt, dass ich seinen wunden Punkt getroffen hatte.
Ich: „Aber der Krieg kann noch länger dauern. Sein Ende. Jeder einfühlsame Mensch kann das sehen. Es ist eine Schande, dass wir hier noch gequält werden. Du bis gefühlvoll. Wir haben das immer gewusst, also warum solltest du mir nicht heraushelfen in so einem entscheidenden Moment. Du warst immer anständig zu uns. Wir sind immer bereit das in deinem Fall zu bezeugen. Du hast eine Frau und Kinder. Ich habe auch eine Frau und Kinder. (zugestandenermaßen eine Lüge). „Sie warten auf mich daheim. Eine Mutter wartet genauso mit besorgtem Herzen auf ihren Sohn. Wie kannst du mir in einer solchen Situation verweigern, dass ich mich vor dem Tod rette? Kann sein, dass ich dich morgen aus einer Gefahr befreien kann – eine Hand wäscht die andere. Ich bitte dich, schlag mir das nicht ab. Du wirst dafür jedes gute Wort bekommen.“
Ich sah ihn auftauen. Er stritt mit sich selber, als er darüber nachdachte, was er mir antworten sollte. Schließlich sagte er leise:
„So weit es mich betrifft, sehe ich gar nichts.“ Er drehte sich um und setzte seine Runde fort.
Als die Wache wegging, lief ich zu Ernst, um ihm die gute Neuigkeit zu erzählen: Wir hatten die Erlaubnis bekommen, zu flüchten. Ernst zögerte noch immer, sein Leben zu riskieren. Er glaubte auch nicht, dass ich fähig wäre, so etwas durchzuführen. Er begann mit mir zu streiten und er erzählte mir, dass wir es nicht riskieren sollten, aber ich verschloss die Ohren vor ihm und ich packte ihn mit solcher Kraft, dass er sich nicht bewegen konnte. Ich weiß nicht, wo meine Stärke herkam; ich weiß nur, dass mich etwas Unmenschliches überkam. Ich zog ihn mit mir in den Wald. Wir liefen ein paar hundert Meter und brachen dann voller Erschöpfung zusammen.
„Du Teufel!“ schrie er mich an. „Was passiert nun?“
„Die Hauptsache ist, dass wir außerhalb des Stacheldrahtes sind,“ sagte ich ihm. „Nun werden wir uns den Weg über den Inn suchen und uns verstecken bis die Amerikaner kommen.“
Ernst, der schon bereute, mit mir gekommen zu sein, feuerte Fragen auf mich ab: „Aber wir können hier im Wald nicht bleiben. Wir werden verhungern. Wir können den Wald auch nicht verlassen, wegen unserer gestreiften Kleidung ... Wir werden gefangen und sofort erschossen werden.“
Ich versuchte ihn zu beruhigen, indem ich ihm sagte, dass wir uns irgendwo verstecken würden. Nun da der Krieg zu Ende ging und die Deutschen verloren hatten, würden viele Soldaten einen guten Eindruck machen wollen. „Wir werden sicher jemand finden, der uns verstecken will. Alles was wir tun müssen, ist den Wald in der Nacht zu verlassen oder in der Morgendämmerung um etwas zu essen zu finden bis wir im Dorf ankommen. Aber wir müssen uns beeilen, weil sie herausfinden werden, dass wir uns während des Appells aus dem Lager entfernt haben und sie werden Wachen schicken, um uns zu jagen.“
Ich kannte ungefähr den Weg zum Inn. Nachdem wir eine Weile gerastet hatten, begannen wir zu laufen. An einer Stelle hörten wir jemand gehen und tauchten in einer Grube unter. In der Entfernung sahen wir einen OT-Mann einen Waldweg in das Dorf hinuntergehen. Wir warteten bis er außer Sichtweite war und begannen dann wieder zu laufen.
Wir liefen die ganze Nacht bis der Tag anbrach. Es war der 25. April 1945. Der Tag stellte sich als heller und klarer heraus. Wir kamen an den Waldrand und sahen ein Dorf, sahen seine Häuser und Straßen aus der Dunkelheit auftauchen.
Ich fing an herumzuschauen, um zu erkennen, wo wir waren. Schließlich erkannte ich das Dorf als Pürten. Ein Schmied lebte dort, der Hufeisen für meine Pferde machte. Bei dem Schmied arbeitete ein polnischer Zwangsarbeiter mit dem ich zu reden pflegte, wenn meine Pferde beschlagen wurden. Ich wusste, dass der Schmied ein Parteigenosse war und stolz darauf – seine Mitgliedsurkunde hing an der Wand. Aber in diesem Moment war keine Zeit um zu spekulieren: Wir mussten aus dem Wald heraus, bevor der Tag anbrach und das Dorf noch schlief. Wenn wir uns bei dem Schmied verstecken konnten, dann konnten wir Kontakt mit dem polnischen Nichtjuden aufnehmen, der uns vielleicht helfen würde.
Wir schlichen durch Straßen und zwischen den Häusern hindurch. Ein Hund begann zu bellen, deshalb bewegten wir uns schnell und beteten, dass er aufhörte. Schließlich erreichte wir das Haus des Schmieds. Quer über den Hof waren ein Stall und eine Scheune. An einer Seite des Hofes war seine Esse, darüber waren verschiedene Böden und auf der anderen Seite sein Haus. Wir schauten auf diese Gebäude wie auf verlorene Seelen, die nicht wussten was sie tun sollten oder wo sie sich verstecken sollten. Dann sah ich eine Leiter, die auf den Boden führte.
„Warte hier“, sagte ich,“ ich will sehen, ob der Boden offen ist.“
Ich stieg die Leiter hinauf, drückte die Tür auf und winkte meinem Freund: „Komm!“ Wir kletterten auf den Boden, der voller Heu war. Ich machte ein Loch in die Wand, durch das wir in die Schmiede schauen konnten. Wir bedeckten uns selbst mit Heu und entspannten uns ein bisschen. Nun merkten wir erst, dass uns alles wehtat, besonders die Füße waren geschwollen.
Ernst schlief und begann zu schnarchen. Ich konnte nicht einschlafen; mein Verstand war überreizt mit Eindrücken und Plänen. Ich setzte voraus, dass das nur eine Zwischenstation war und dass wir in der nächsten Nacht weiterlaufen mussten, um den Besitz zu erreichen, wo die Dienstmagd mir angeboten hatte, mir ein Versteck zu verschaffen. Der Besitz war aber unglücklicherweise jenseits des Inns und wir mussten sehen, dass es hell genug war.
Ernst wachte auf und beklagte sich über Hunger. Keiner von uns hatte beinahe 24 Stunden etwas gegessen. Während wir gelaufen waren, hatten wir überhaupt nicht an essen gedacht; nun, als wir uns im Heu ausruhten, wurde unser Hunger schmerzhaft. Wir hatten noch nicht gelernt, Heu zu essen. Ich beruhigte Ernst und erzählte ihm, dass ich sobald ich den polnischen Nichtjuden sehen würde, ich ihm signalisieren würde, dass er heraufkommen sollte und uns etwas zu essen bringen sollte.
Ich saß neben dem Spalt in der Wand und wartete, dass jemand kam. Schließlich sah ich den Polen Eimer mit Nahrung für das Vieh und die Pferde über den Hof tragen. Ich beneidete die Kühe, weil sie jemand hatten, der sich um sie kümmerte. Das Glück der Tiere. Ich pfiff. Er schaute herum und weil er niemand sah, setzte er seinen Weg fort. Ich sagte meinem Freund, dass er sich nicht sehen lassen sollte, um unsere „Retter“ nicht zu beunruhigen. Sie würden sich genug beunruhigen, wenn sie einen von uns sahen. Wenn ich etwas zu essen bekommen würde, würde ich es auf alle Fälle mit ihm teilen.
Ich wartete bis der Pole von der Scheune zurückkam. Als ich ihn sah, pfiff ich wieder. Er schaute wieder in alle Richtungen und sah niemand, so pfiff ich immer wieder bis er darauf kam, dass jemand pfiff, der über ihm war. Als er heraufkam, stand ich aus dem Heu auf und näherte mich ihm. Als er mich sah, bekreuzigte er sich und schaute verstört.
Ich begann mit ihm auf polnisch zu reden. „Erinnerst du dich, als ich mit Lebensmittel für das Lager bei euch vorbeikam und die Pferde beschlagen bekam? Du weißt, wir sind in einem Lager nicht weit von hier in der Nähe von Ampfing. Ich bin aus dem Lager geflüchtet, weil ich Angst hatte, dass sie uns in den letzten Tagen vor der Befreiung umbringen würden. Nun bin ich in deinen Händen, Bruder. Wir sind beide Polen und Zwangsarbeiter der Deutschen. Wir müssen einander helfen.“
Mit erstickter Stimme antwortete der Pole: „Aber was willst du von mir? Ich bin auch ein Zwangsarbeiter, ein Fremder.“
„Ich weiß das sehr wohl“, sagte ich. „Ich kenne deine Situation. Du wurdest auch von daheim abgezogen, von deiner Familie und gezwungen für Pennies zu arbeiten. Aber unsere Zwangsarbeit wird bald enden. Bald werden wir frei sein und sie werden die Sklaven sein. Nun müssen wir zusammenhalten. Immerhin sind wir Brüder, beide Polen. Wir sind auf demselben Boden aufgewachsen unter demselben Himmel in der gleichen Kultur von Slowacki und Mickiewicz. Ich bin ein Jude, aber immer noch ein polnischer Staatsbürger. Wir sind wie Brüder aufgewachsen. Ich will nur eine Sache von dir: Lass mich nicht an Hunger sterben.“
Er starrte mich an, überlegte eine Minute und sagte dann:
„Aber ich kann dir überhaupt nicht helfen. Ich würde in deinem Interesse mein Leben riskieren. Wenn es entdeckt wird, dass ich jemand vom Lager geholfen habe, und ihm etwas zu essen gegeben habe, werden sie mich wie einen Hund wegjagen.“
Ich begann ihn inständig zu bitten, mich nicht fallen zu lassen, dass ich in der nächsten Nacht weg sein würde über den Inn, wo ich ein Versteck organisiert habe. Ich bat nur um etwas zu essen in der Zwischenzeit, weil ich nicht stark genug war, mich weiter vorzuwagen.
Indem er jeden Blickkontakt vermied, zuckte er mit den Schultern und sagte: „Du kannst nirgendwo hinlaufen, denn du kannst nicht über die Brücke. Sie wird schwer bewacht. Die SS hat Angst vor Saboteuren und Fallschirmjägern. Du wirst einen anderen Platz finden müssen. Ich werde nicht mein Leben für dich riskieren. Wenn du von hier nicht abhaust, dann denunziere ich dich bei meinem Boss, der ein Parteigenosse ist.“
Ich redete weiter, appellierte an sein Gewissen, seinen Patriotismus, flehte ihn an, mir jetzt zu helfen, wenn der Krieg seinem Ende zuging. Ich versprach, dass ich es ihm später vergelten würde und ihm mehr als das Doppelte für sein gutes Herz zurückzahlen würde. Nichts half. Er weigerte sich, nachzugeben. Seine kalten grauen Augen glühten vor Mordlust. Es schien unmöglich zu sein, Mitleid bei ihm zu wecken. Als ich das sah, sagte ich ihm: „Gut, ruf deinen Chef. Ich will mit ihm reden. Aber erzähle ihm vorher nichts – Hand drauf.
Ich sah, dass ich ihn von einer großen Bürde befreite. Er stimmte zu, den Schmied zu rufen, dass er heraufkäme, aber er versäumte nicht, mich zu erinnern: „Erinnere dich, dass er ein Parteigenosse ist und das er dich an die Gestapo weitergeben kann.“
Es war alles dasselbe für mich – ich starb entweder an Hunger und es war offensichtlich unmöglich für mich, die Brücke zu überqueren. Ich machte mich bereit meine letzte Karte auszuspielen.
Der Pole war einige Zeit weg. In der Zwischenzeit ging ich zu meinem Freund und erzählte ihm von meinem Gespräch mit dem Polen. Als er hörte, dass mein Versuch gescheitert war, erschrak er und begann mich anzuklagen, dass ich ihm Unglück brächte und ihn in die Fänge der Gestapo brächte. Nach ihm war es weniger gefährlich, mich sofort zu verlassen.
Ich versuchte ihn zu beruhigen und erzählte ihm, dass die Situation nicht so gefährlich war, dass es für uns unmöglich war, den Heuschober bei Tag zu verlassen, dass wir in der Nacht abhauen würden, wenn der Schmied uns nicht bleiben ließ. Er ärgerte sich darüber, dass ich den Chef zu sehen verlangt hatte, weil er ein Parteigenosse war, der uns sofort der Gestapo übergeben würde.
Ich war enttäuscht. Mein Verstand begann in alle Richtungen zu arbeiten. Schon bald kam der Pole mit dem Schmied zurück. Er erkannte mich sofort.
„Du bist vom Waldlager. Wie kommst du hierher?“
Ich fing an, meine Argumente auszubreiten: „Du weißt, der Krieg geht zu Ende. Gestern teilte uns der Hauptmann amtlich mit, dass wir frei wären, dass wir nur warten müssten, bis die amerikanischen Truppen kamen und er würde ihnen dann das Lager übergeben.“
Der Schmied sprang sofort darauf an. „Ja, aber das war gestern. Als die Rebbeln den Rundfunksender übernommen hatten und Falschmeldungen über das Kriegsende herausgaben. Aber die Verräter wurden gefangen und sofort verurteilt.“
Als ich hörte, dass er die ganze Geschichte kannte, versuchte ich einen andere Variante: „Du bis ein einfühlsamer Mensch, deshalb weißt du, dass der Krieg nicht lange weitergehen kann. Wenn nicht heute, dann wird das Ende morgen kommen. Ich bin von dem Lager davongelaufen, denn ich hatte Angst mein Leben in dem letzten Moment zu verlieren. Das könnte passieren, denn die Alliierten bombardierten uns oder weil eine der SS-Wachen die Nerven verliert oder weil der Befehl kommt, dass sie uns alle umbringen.“
„Das ist unmöglich“, sagte der Schmied, „sie würden keine solchen Narren sein.“
Ich begann ihn zu bearbeiten, indem ich ihm erzählte, dass nicht jeder ein solchen Durchblick hatte wie er und die Situation so gut verstand. Wenn alle so wären wie er, dann wäre der Krieg schon lange zu Ende, weil es keinen Sinn machte, noch länger zu kämpfen.
Er lächelte und sagte mir, dass ich recht habe. Ich führte weiter aus:
„Als ich das Lager verlassen habe, erzählte ich meinen Freuden, dass ich mich bei dir verstecken würde, weil ich deinen guten Charakter und dein gutes Herz kennen würde. Ich hatte nie Angst vor deinem Parteigenossen-Status, weil du kein fanatisches Parteimitglied warst, sondern eine einfühlsame Person. Du gehörtest äußerlich zu der Partei, aber innerlich warst du immer ein Demokrat, ein Liberaler. Es war wahrscheinlich wertvoll für dich, aus Geschäftsgründen ein Parteimitglied zu sein. Wenn der Krieg vorbei ist, werden meine Freunde nach mir hier suchen. Wenn sie mich nicht finden, wirst du verdächtigt werden, mich getötet zu haben. Ich will das wirklich verhindern, so dass du nicht darunter leiden musst. Im Gegenteil, ich werde der erste sein, der dich rehabilitiert.“
Diese Worte machten den Eindruck, den ich erzeugen wollte. Er gab nach, aber er war unentschlossen. Mit sich selbst kämpfend, antwortete er:
„Richtig, ich war nie ein fanatischer Parteigenosse. Du kannst Anton fragen.“ Er zeigte auf den polnischen Nichtjuden. „Ich behandelte die Fremdarbeiter immer anständig. Ich will dich nicht der Gestapo übergeben, denn ich will niemand unglücklich machen. Es war falsch, dass du das Lager verlassen hast, denn dir wäre dort nichts passiert. Aber ich kann dich nicht hierbehalten, denn das wäre zu gefährlich. Die Hunde schnüffeln in jedes Loch. Wenn du in meinen Räumlichkeiten gefunden wirst, werden sie meine Familie töten und mein Haus niederbrennen. Ich gebe dir etwas zu essen und versorge dich mit Kleidung, aber du musst in der Nacht verschwinden. Du verstehst, weil du kein Narr bist, dass du mich bittest mit dem Feuer zu spielen.“
Er hatte keinen Nazijargon benutzt; wenn überhaupt, dann versuchte er etwas Menschlichkeit zu zeigen. Vielleicht war das, um sich für die Zukunft abzusichern. Zwei Jahre früher oder vielleicht sogar eines und das würde nicht funktioniert haben. Er würde mich ohne Zögern selbst ermordet haben oder würde mich der Gestapo übergeben haben. Nun, da die Deutschen wussten, das der Krieg zu Ende ging, dachten sie an morgen. Er verstand nun, dass meine Freunde im Lager wussten, wo ich war. Der polnische Arbeiter könnte auch bezeugen, dass er mich umgebracht hatte, weil er mich loswerden wollte. Aber ich beschloss nicht aufzuhören, bevor ich ihn nicht ganz überzeugt hatte. Ich flehte:
„Ich bin noch ein junger Mann. Ich will leben, also, warum solltest du mich wegschicken von diesem Platz und in den Tod? Heute wirst du mich retten. Vielleicht kann ich morgen dich retten.“ Ich erzählte ihm, dass eine nette deutsche Frau mir angeboten hatte, mich zu verstecken, weil sie mich vor dem Tod retten wollte, aber dass ihr Haus auf der anderen Seite des Flusses sei und ich könnte ihn nicht überqueren, weil die Brücke zu schwer bewacht war. Ich kniete vor ihm und bettelte ihn an, dass er mich nicht wegschickt, dass er mich nicht in den letzten Tagen des Krieges sterben lässt. „Du hast Kinder und dank deiner Verdienste werden sie auch vor dem Tod gerettet. Später werde ich dich verteidigen. Ich erzähle den Kommandeuren der Alliierten, wie anständig du zu uns warst, wie du uns geholfen und geschützt hast. Andernfalls wirst du angeklagt werden, dass du mein Blut vergossen hast.“
Ich hatte den Schmied in eine schwierige Position gebracht. Belastungen für und gegen uns kämpften in ihm. Er hatte Angst, dass er entdeckt würde, weil er einen Geflohenen aus dem Lager versteckt hatte und er war immer noch ein deutscher Patriot. Gleichzeitig wurde er von Gefühlen der Menschlichkeit bombardiert, die in ihm geweckt worden waren und er wollte sich mit einem Alibi versorgen, nun wo der Krieg dem Ende zuging. Er flehte mich an, dass ich sein Haus verlasen sollte. Seine Frau sei krank und würde so etwas wie das hier nicht überleben. Als er seine Frau erwähnte, sagte ich zu ihm:
„Geh und frag deine Frau. Erzähl ihr, was hier passiert. Lass sie dich überzeugen, dass du mich bleiben lässt.“
Er stimmte zu, es mit ihr zu besprechen und ging weg.
Als der Schmied hinunterstieg, ging ich zurück zu Ernst und brach im Heu zusammen. In diesem Augenblick war ich ein Bündel Nerven und dachte nicht mehr an essen. Ich wusste, dass unser Leben in der Schwebe war. Wenn wir uns hinausdrängen ließen, waren wir verloren: Wir würden sofort gefangen werden. Zu diesem Zeitpunkt ging eine Menschenjagd um gegen Spione und Saboteure, die die Alliierten abspringen ließen, deshalb würden wir sofort gefasst und an die Wand gestellt werden. Wenn wir den Inn überqueren könnten, dann würden wir den Weg zu dem Besitz fortsetzen können, wo die Frau mir angeboten hatte, mich zu verstecken, aber nach den Aussagen des Polen war das unmöglich: Die Straßen und Brücken waren zu stark bewacht und alle verdächtigen Leute würden zum Verhör verhaftet werden.
Ernst quälte sich damit, dass er sich hatte überreden lassen, mit mir zu kommen. Ich meinerseits war überzeugt, dass ich den Schmied überzeugen konnte, uns zu helfen. Solange er sich nicht arrogant gegen uns wandte, konnte ich ihn weiter überzeugen. Ich war überzeugt, wenn seine Frau unsere Geschichte hörte, würde sie mit uns sympathisieren. Auch würde sie beide Zeugen haben wollen, dass sie nicht fanatische Unterstützer der Nazipartei waren.
Ich wartete mit klopfendem Herzen auf die Rückkehr des Schmieds und dachte mir inzwischen neue Argumente aus, um ihn zu überzeugen. Mein Mund war ausgedörrt und schmeckte faul: Ich hatte mehr als 24 Stunden nichts zu essen und zu trinken gehabt. Alptraumhafte Gedanken begannen mich zu quälen: „Vielleicht ist er gegangen, um uns zu denunzieren. Vielleicht wartet er auf die Gestapo.“
Ich hatte Angst meine Befürchtungen gegenüber Ernst zu äußern. Er dachte wahrscheinlich dasselbe aber hatte Angst es gegenüber mir zuzugeben. Für den Fall, dass er sah, wie durcheinander ich war, sagte ich ihm: „Egal was mit mir passiert, du bleibst hier versteckt. Lass sie nicht wissen, dass da noch jemand ist.“ Im schlimmsten Fall konnte er sich nach einem anderen Versteck für die nächste Nacht umsehen.
Die Minuten verflossen und drückten auf meine Lungen, mein Herz und meinen Verstand. Schließlich hörte ich Schritte. Der Schmied öffnete das Tor und kam herein. Ich atmete erleichtert auf, als ich sah, dass er allein gekommen war. Ich verließ mein Versteck und rannte mit einem Lächeln zu ihm. Mein Lächeln verschwand schnell, als ich sah, dass er kreidebleich war und auf die Lippen biss.
„Was ist passiert?“ fragte ich ihn.
Der Schmied drehte sich weg, als könnte er mir nicht in die Augen schauen. Als ich hinuntergestiegen bin“, sagte er, „und meine Frau erzählte, was hier geschah, wurde sie ohnmächtig. Wir haben es knapp geschafft sie wiederzubeleben. Sie ist ohnmächtig geblieben und hat hohes Fieber. Ich musste den Arzt holen, um ihr eine Spritze zu geben und nun muss sie im Bett bleiben. Nun habe ich niemand mehr, mit dem ich das besprechen kann.
Meine Knie knickten ein. Ich bat ihn, mir einen Schluck Wasser zu geben, denn ich konnte meine Zunge im Mund kaum bewegen. Es lag ein weißer Schaum auf meinen Lippen und brannte auf der Zunge. Er stieg hinunter und brachte mir etwas Wasser, das in diesem Moment besser schmeckte als der beste Tokajer. Ich wollte es fast alleine trinken, so durstig und trocken war ich, aber ich erinnerte mich, dass ich etwas für Ernst aufheben musste. Ich erfrischte mich ein bisschen und flehte ihn weiterhin an.
Zuerst bedauerte ich, dass meine Gegenwart seiner netten Frau solchen Kummer machte. Hoffentlich würde sie sich schnell erholen. Ich würde weggehen, obwohl das mit meinem Tod enden würde. Ich bedauerte, dass ich meinen Freunden im Lager erzählt hatte, dass ich weglaufen würde und mich hier verstecken. „Wenn sie befreit werden, werden sie hierher kommen, um mich zu suchen“ sagte ich ihm. „Dann werden sie daraus schließen, dass du mich hinausgeworfen hast, dass du dich geweigert hast, mir in diesem kritischen Moment zu helfen und dass du meinen Tod verursacht hast.“
Der Schmied rang die Hände und begann zu flehen: „Ich jage dich nicht hinaus. Ich würde dich mit Freuden verstecken und dich vor den Gefahren schützen, in denen du steckst, aber du hast gesehen, was hier passiert ist. Meine Frau wird das nicht überleben. Ich habe ihr versprechen müssen, dass ich dich sofort hinauswerfe. Ich gebe dir etwas zu essen und einige Kleidungsstücke, aber in der Nacht musst du weggehen und einen anderen Platz finden im Wald oder du gehst zurück ins Lager.
Als ich die Wörter „zurück ins Lager“ hörte, schüttelte es mich. Ich konnte ihm nicht sagen, warum ich nicht ins Lager zurück konnte – er würde noch verärgerter und aufgeregter werden. Dann fiel mir ein neues Argument ein:
„Hör zu, mein Freund. Entschuldige, dass ich dich „meinen Freund“ nenne aber bis jetzt habe ich meinen Glauben daran nicht verloren, dass du mein Freund bist, andernfalls würde ich nicht zu dir gekommen sein. Ich hoffe dein gesunder Menschenverstand bestimmt deine Überlegungen und dass wir Freunde bleiben für viele Jahre. Ich brauche deine helfende Hand in diesem schwierigen Augenblick, wenn mein Schicksal in der Schwebe ist. Morgen werde es vielleicht ich sein, der dich aus großen Problemen befreit. Deshalb habe ich einen anderen Plan für dich. Hör gut zu:
Du weißt nicht, dass ich hier bin. Du weißt es wirklich nicht. Wenn ich nicht gesagt hätte, dass man dich rufen soll, weil ich an deine Ehrlichkeit und deine menschlichen Gefühle, würdest du nicht wissen, dass ich hier bin – nach allem bin ich erst in der letzten Nacht gekommen. Ich kam die Leiter herauf und versteckte mich hier ohne jemand anderem – nicht einmal der polnische Arbeiter weiß etwas davon. So würdest du auch nichts wissen. Ich verspreche dir, wenn ich bei der geringsten Chance hier gefunden würde, würde ich unter keinen Umständen enthüllen – nicht einmal wenn ich geschlagen würde – dass jemand von den deinen oder du von meinem Aufenthalt wissen. Jetzt habe ich nur das Problem, dass ich etwas zu essen brauche. Das wird kein großes Problem sein. Um es gleich zu sagen, ich habe die Essgewohnheiten verloren, es würde reichen, wenn ich etwas zu trinken habe und ein dickes Stück Brot. Ich will nicht, dass du mir Essen heraufschickst, weil du ja nicht weißt, dass ich hier bin. Aber du hast ein paar Hennen und Enten, so tauche ein paar alte Brotstücke ein und stelle unten einen Eimer Wasser hin und ich werde das mit ihnen teilen. Sie würden mir sicher etwas abgeben.“
Der Schmied wand sich. Ich hatte ihn an die Wand gestellt und bot ihm zwei Gründe an, die er schwerlich zurückweisen konnte, aber ich sah, dass er noch immer unentschlossen war, so gab ich ihm einen letzten Stoß:
Hör zu, ich hab einen anderen Vorschlag für dich. Ich bleibe hier noch zwei weitere Tage versteckt, ohne dass du etwas von mir weißt. Sei überzeugt, von dem was ich sagte – ich werde dich nicht hinhängen. Wenn in diesen zwei Tagen der Krieg noch nicht beendet ist, dann verlasse ich dich, ohne dich noch länger zu belästigen. So wie ich das sehe, kann der Krieg nicht länger als ein paar Tage dauern.“
Ich begann ihn einzuwickeln. „Du bist ein intelligenter Mann. Du verstehst die Situation gut, weil du ein Realist bist. Wenn die Russen bereits Berlin erreicht haben, und die Alliierten den Rhein überschritten und Bayern erreicht haben, wer kann dann die Front halten. Ein paar alte Leute und Kinder? Ich weiß nicht, ob Hitler noch am Leben ist. Wenn er es ist, dann wird er in jedem Moment gefangen, denn es ist niemand mehr da, der ihn beschützen kann und seine persönlichen Wachen werden nicht reichen. Wenn Hitler fällt, dann ist das das Ende des Krieges. Da sind nur mehr ein paar Fanatiker, die den Führer nicht verraten wollen und die nicht aufgeben wollen und die kämpfend sterben wollen, aber ihr Widerstand wird bald gebrochen werden. Ich glaube, dass du bald meine Hilfe brauchen wirst und du dich freuen wirst, dass du mir die Möglichkeit gegeben hast mich selbst zu retten – etwas was ich dir nie vergessen werde. Ich bin auch so glücklich, dass ich so einen feinen Mensch getroffen habe, der ein solches Mitgefühl für menschliche Wesen hat.“
Jetzt hatte ich das Eis vollständig gebrochen. Der Schmied begann zu lächeln und gestand mir zu, dass ich recht hatte. Ich gab ihm die Hand und sagte:
„Entspann dich. Wenn du nach zwei Tagen die Richtigkeit meiner Argumente nicht siehst, dann brauchst du mich nicht zu rufen. Ich werde selber gehen. Andernfalls weißt du von nichts.“
Er schüttelte mir die Hand und ging.
Als der Schmied wegging, ging ich zu Ernst hinüber und wir umarmten und küssten uns. Ernst war weg vor Glück.
„Du bist ein Zauberer! Ein Künstler! Was du gerade getan hast, verdient den höchsten Grad an Diplomatie!“
Persönlich fühlte ich mich geplättet. Sobald mich die Spannung verließ, brach ich total erschöpft zusammen, unfähig zu sprechen oder mich zu bewegen. Ich hatte nur einen Wunsch: schlafen. Ernst redete immer noch, aber ich hörte ihm nicht mehr zu: Ich war nicht in der Lage etwas aufzunehmen oder zu denken.
Ein wenig später hörten wir jemanden das Tor aufmachen. Bald danach hörten wir das Gackern der Hennen. Als es wieder ruhig wurde, stand Ernst auf, weil ich mich nicht bewegen konnte. Er ging auf die andere Seite hinüber und kam bald danach zurück mit ein paar Kanten Brot und einem Topf Wasser. Wir aßen und vergruben uns dann im Heu. Betäubt von dem Heugeruch schlief ich bis zum Abend.
Als ich wach wurde, war es Nacht. Durch die Spalten in der Wand konnten wir elektrische Lichter flackern sehen. Dies war unsere zweite Nacht außerhalb des Lagers aber unsere erste Nacht zum Ausruhen, befreit von der Todesangst. Ich fühlte mich, als wenn wir eine wilde Schlacht überlebt hätten, die wir auch gewonnen hätten, aber andere Schlachten lagen noch vor uns. Ich betete, dass die zwei Tage, für die wir die Erlaubnis zum Bleiben hatten, für immer andauern würden. Der Gedanke, dass der Krieg in zwei Tagen nicht zu Ende war – dass wir uns einen anderes Versteck suchen müssten – kostete mir viel Besorgnis.
In der Zwischenzeit versuchte ich über nichts nachzudenken, als wenn ich meinen Verstand nicht vergiften wollte oder meine Freude dämpfen wollte. Wir lagen im Heu und spekulierten, wie lange der Krieg wohl noch dauern würde. Meiner Ansicht konnte er nicht mehr lange weitergehen. Wenn Berlin an die Russen fiel und die Alliierten das Ruhrgebiet einkassierten, würde Deutschland gelähmt sein. Zu diesem Zeitpunkt würden die Völker der besetzten Gebiete aufstehen und sie wegjagen.
Spät am folgenden Tag, kam der Pole herauf und brachte mir zwei Kanten Brot und Margarine und erzählte mir, dass die Deutschen schockiert herumliefen, weil die Nachrichten im Radio so furchterregend waren. Sie hatten jede Siegeshoffnung verloren. Die Russen und die Polen waren im Zentrum von Berlin und führten Pogrome an den Deutschen aus. Ein Kollege von ihm, der das Untergrundradio hörte, hatte alles das gehört in der polnischen Variante von „Voice of America“. Er und seine Freunde warteten noch, dass etwas in diesem Gebiet geschah und dann würden sie selber aufstehen. Der Schmied hatte mich nicht verraten. Er hatte ihm nur erzählt, dass er keine Fremden näher heranlassen sollte und dass die Scheune verschlossen blieb.
Der Schmied zeigte sich uns nicht mehr aber an dem Essen, das übrig blieb – und das eigentlich für die Hennen gedacht war – sahen wir, dass sich unsere Lage verbesserte. Wir hatten schon ein Stück frisches weißes Brot gesehen ein Stück Käse, ein hartgekochtes Ei von unseren Nachbarn, den Hennen.
Am darauffolgenden Tag kam der Pole zurück und erzählte mir, dass in Italien, Mussolini gefangen und gehängt worden war. Er fügte hinzu, dass von Hitler vermutet wurde, dass er tot war. Die Russen suchten nach ihm in der Hoffnung, ihn lebend zu fangen. In der Zwischenzeit gab es noch Kämpfe in Bayern, nicht weit weg von München. Sein Boss hatte Angst, dass er an die Front geschickt würde. Jeder, der eine Waffe halten konnte, wurde dorthin geschickt.
An diesem Punkt sagte ich ihm, dass ich nicht allein war und stellte ihm Ernst vor. Er scherzte ohne eine Überraschung erkennen zu lassen: „Ein Junge ist schon geboren?“ Ich erzählte ihm, dass er obwohl er kein Pole war, er ein ordentlicher Junge war. Wenn wir mit Gottes Hilfe befreit würden, sollten wir alle gemeinsam gehen, um bei den amerikanischen Soldaten vorstellig zu werden. In der Zwischenzeit wies ich ihn an, kein Wort zu sagen – nicht einmal zu seinen besten Freunden – weil es zu gefährlich war.
Die zwei Tage vergingen. Ich hatte Angst, dass der Schmied heraufkommen würde und uns befehlen würde, zu gehen, der Verabredung entsprechend, die wir getroffen hatten. Ich hatte mir bereits neue Argumente zurechtgelegt um ihn zu überreden, seine Erlaubnis auszudehnen. Er kam überhaupt nicht mehr. Es schien, dass er uns nicht zur Räumung zwingen wollte und nicht darauf bestand, dass wir unser Wort hielten.
Nach dem Essen zu urteilen, das der Schmied für die Hennen übrig ließ, war es offensichtlich, dass er meine Schuld vergessen hatte. Sogar wenn ich beschlossen hätte, wegzugehen, würde er sich wahrscheinlich geweigert haben, mich gehen zu lassen. Ich war die Garantie für ihn, dass ihm nachher nichts passieren würde. Ich fand schon ein Stück Kuchen und einige Äpfel unter dem Hühnerfutter. Ich hatte auch einen Topf Milch gefunden. Meine Freude war unbeschreiblich.
Ernst küsste und umarmte mich weiterhin. Er bat mich, ihm zu verzeihen, dass er mir so viel Ärger bereitet hatte. Er konnte nun sehen, dass ich recht hatte. Und seitdem unsere Vereinbarung vergessen hatte, kam das Thema „Weggehen“ nicht mehr auf.
Am 29. April 1945 waren wir immer noch in dem Heuschober versteckt und warteten fieberhaft auf die Befreiung. Hitlers tausendjähriges Reich brach zusammen. Die letzten Überbleibsel der Wehrmacht versuchten sich den Amerikanern und den Briten zu ergeben, mehr als den Russen. Hinter dem Rücken des Führers, aber getrennt, versuchten Himmler und Göring eine Kapitulation mit den Amerikanern und Briten auszuhandeln.
Himmler verhandelte mit dem Schweden Graf Bernadotte, der Verbindungen zwischen den deutschen Militärs und den Alliierten hatte. Er wollte eine getrennte Kapitulation mit den Briten und den Amerikanern aushandeln, so dass sie schnell ohne Unterbrechung ostwärts marschieren konnten. Aber die Briten und Amerikaner verweigerten ein Geschäft mit Himmler, weil er der Henker Europas war, der Anführer der SS und der blutigen Gestapo. So führten diese Verhandlungen zu nichts.
Göring, der zu dieser Zeit in Süddeutschland war, wollte Kontakt mit dem amerikanischen General Dwight Eisenhower aufnehmen, um über eine Kapitulation im Westen zu verhandeln. Die Deutschen und die Alliierten konnten dann gegen die Russen gemeinsam kämpfen. Übereinstimmend mit einem Beschluss von 1941 wurde Göring als Nachfolger Hitlers vermutet. Als er sah, dass Berlin an die Russen fiel, fühlte er sich berechtigt, das Kommando der Wehrmacht zu übernehmen. Aber ein weiser Mann sagt: „Die Sünder bereuen nicht, nicht einmal vor den Pforten der Hölle.“
Als Hitler hörte, dass Himmler und Göring versuchten mit den Briten und Amerikanern zu verhandeln, wurde er wütend, denn niemand hatte ihn um Rat gefragt. Er verstieß sie beide aus der NSDAP und nahm ihnen ihre Macht weg. Er bestimmte als seinen Nachfolger Admiral Dönitz. Hitler war sauer und enttäuscht und sah sich von seinen besten Kommandeuren verraten. In seinem letzten Befehl herausgegeben aus dem Bunker am 29. April, kündigte er an: „An alle Deutschen, an alle Nationalsozialisten, Männer und Frauen und alle Soldaten der Wehrmacht, ich befehle euch loyal und gehorsam der neuen Regierung und seinem Präsidenten Admiral Dönitz, bis zum Tod zu sein. Auf alle Fälle verpflichte ich die Regierung, die Nation und die Gefolgschaft auf die strikte Einhaltung der Rassengesetze und auf die nicht endende Gegnerschaft zu den Weltvergiftern von allen Nationen dem internationalen Judentum.“
Er heiratete dann Eva Braun. Am folgenden Tag, dem 30. April würden die Neuvermählten zusammen Selbstmord begehen. In 12 Jahren hatte Hitler die Hälfte der Welt zerstört, nun zerstörte er sich selbst und ließ sich selbst im Schutt des Reichstages begraben.
Als die Welt von Hitlers Tod erfuhr, verstand man, dass der Krieg beendet war. Die Wehrmacht hatte keine Kohle mehr, keine Munition oder Benzin für die Bomber und Panzer. Nur einige isolierte deutsche Truppen kämpften hart gegen die Alliierten, weil sie keinen Befehl erhalten hatten aufzuhören. In den letzten Tagen fielen tausende Soldaten auf beiden Seiten, aber vor allem auf der deutschen Seite. Die alliierte Luftwaffe war sehr aktiv und zerstörte die letzten Überbleibsel der deutschen Streitkräfte. Britische und amerikanische Truppen nahmen Hamburg, Magdeburg und Leipzig ein und verbündeten sich mit der russischen Armee an der Elbe.
Am 30. April stürmten die Russen den Reichstag und durchsuchten die tiefsten Bunkerräume. Sie fanden Hitler aber nicht lebend. Früh an diesem Tag hatte er dem Leben seines Hundes ein Ende gesetzt. Sein letzter Gefolgsmann hatte seinen Körper in den Garten der Reichskanzlei getragen, zusammen mit dem von Eva Braun, goss Benzin darüber und äscherte sie ein.
Aber der Krieg ging immer noch weiter. Die Führer der Wehrmacht hofften, eine getrennte Kapitulation mit den Alliierten zu unterzeichnen, in der Hoffnung, die russische Armee vom deutschen Boden fernzuhalten. Aber Hitler selbst vereitelte diese Möglichkeit, indem er Himmler und Göring bestrafte.
Die Russen betraten Deutschland wie eine Herde wilder Bestien, indem sie alles zerstörten und verbrannten, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie suchten nach Rache für die Zerstörungen der Deutschen, die diese ihren Städten angetan hatten. Auch viele Polen, Rumänien, Jugoslawen und Juden in der russischen Armee hatten einen Grund persönlich Rache zu nehmen. Berlin war platt gemacht, die Häuser zerstört, seine Frauen vergewaltigt. Asche und Staub war alles, was blieb.
Ich erfuhr später, dass zwei Tage, nachdem wir weggelaufen waren, das Waldlager evakuiert worden war. Die Deutschen hatten noch nicht aufgegeben. Ihr neuer Plan war, den Krieg von den Alpen aus fortzusetzen. Dafür brauchten sie Arbeiter, die Gräben aushoben. Deshalb beschloss die oberste Heeresleitung der Wehrmacht, dass die Zwangsarbeiter aus den Lagern dorthin verlegt werden sollten, wo sie unter Geschoss- und Bombenhagel Gräben ausheben konnten. Außerdem war das übereinstimmend mit Hitlers Ziel, die europäischen Juden auszulöschen. Die Zwangsarbeiter würden die Gräben ausheben und neue Verteidigungsanlagen bauen und würden dann ausgelöscht werden.
Nur die Kranken, die nicht bewegt werden konnten, blieben im Waldlager, zusammen mit einigen Funktionären, unter ihnen einige des Stallkommandos, die auf die Tiere achten mussten. Dem Plan sollten diese in zwei Blocks gesammelt und verbrannt werden. Die sich selbst befreien wollten, sollten erschossen werden. Aber es schien, dass der Hauptmann – ein Wehrmachtsoffizier, kein SS-Mann, gegen den Plan war und ihn die SS-Truppen nicht ausführen ließ.
Der Zug von denjenigen, die mit dem Transport weggingen, wurde angegriffen und viele der Lagerinsassen wurden durch Bomben getötet. Nach einem Tag oder zwei wurden die Türen der Transportwaggons aufgemacht und den Häftlingen wurde gesagt, dass sie frei wären. Die Freude war riesig. Jedoch bevor sie weggehen konnten, wurde ein neuer Befehl ausgegeben: Der Krieg wurde fortgesetzt und jeder musste zurück in die Waggons steigen. Viele Häftlinge versuchten dann zu fliehen und wurden erschossen. All das passierte nur Stunden vor der Befreiung. Der Zug rollte ziellos weiter, bis ihn die amerikanischen Panzer blockierten und die hungernden und leidenden Häftlinge befreite.
Im Heuschober wussten wir nichts davon. Es war genau so ein Tod, den ich die ganze Zeit gefürchtet hatte. In einer Zeit der Verwirrung und des Chaos ist es leicht, sein Leben zu verlieren – in der Schussrichtung einer zufälligen Kugel zu stehen, einer Bombe oder eines Menschen in Uniform, der eine Gelegenheit sucht, um seine Wut auszulassen.
Am 30. April kam der Pole zu uns herauf und erzählte uns, dass Hitler Selbstmord begangen hatte, so dass der Krieg „inoffiziell“ vorbei war. Obwohl wir es erwartet hatten, überraschte uns die Nachricht. Tränen fluteten aus meinen Augen. Zuletzt hatte der Teufel seinen letzten Atemzug getan. Wie viele Unschuldige hatte er getötet, wie viele Familien zerstört, bevor er sich selbst getötet hatte?
In der Dämmerung wurden wir geweckt durch eine große Aufregung im Dorf. Wir hörten Weinen, Gekreische, Schüsse und Befehle, die gebrüllt wurden. Die letzten Reservisten wurden zusammengetrieben, um an die Front gebracht zu werden. Kinder und alte Leute wurden aus ihren Betten geholt und zu den Versammlungsorten gebracht. Die Kinder weinten, die alten Leute husteten und die Frauen rangen die Hände, als sie sahen, wie ihre Kinder und Eltern weggeführt wurden. Das ganze Dorf hatte sich versammelt. Unser Schmied wurde auch mitgenommen. Er wurde ein Armeekommandeur. Zum ersten Mal sah ich die Frau des Hauses, eine dünne, blasse, kranke Frau. Sie starrte zum Heuschober herauf. Als ob alle Hoffnung für sie dort läge.
Um acht Uhr wurde die ganze „Armee“ weggeführt und es wurde wieder still im Dorf. Nicht lange danach hörten wir die Artillerie. Die Granaten waren über den Heuschober gezielt, so dass der Dachstuhl fast weggeblasen wurde. „Halt den Dachstuhl fest!“ schrie ich Ernst an. „Wir werden sonst entdeckt!“
Die Schießerei dauerte die ganze Nacht am 1. und 2. Mai. Anscheinend wurde die ganze Operation an den Ufern des Inns durchgeführt. Die Deutschen waren auf de einen Seite, die Amerikaner auf der anderen Seite mit der Dritten Armee von General George Patton. Bald genug brachte die amerikanische Luftwaffe die deutschen Kanonen zum Schweigen. In der Stille, die folgte, hörten wir das entfernte Röhren der amerikanischen Panzer, die bereits auf ihrem Weg von Mühldorf nach Ampfing waren. Bald kam der Pole zu uns herauf, zusammen mit der Frau des Hauses, die sich mit uns angefreundet hatte und bat, das wir zu ihr hinunter ins Haus kommen sollten. Wir wurden wie Brautleute zur Hochzeitsfeier geführt.
Sie hatte einen Tisch für uns bereitet, der in der Tat an ein Hochzeitsbankett erinnerte. Die Frau erzählte uns, dass sie ihr Leben für uns riskiert hatte, indem sie nicht erlaubte, dass wir weggeschickt würden. Wir begannen zu essen, aber das Essen wollte zuerst nicht hinunter, weil wir erstens zu emotionell und psychisch geschüttelt von unseren Erfahrungen waren und wir zweitens nicht an solche Lebensmittel gewöhnt waren, die wir jahrelang nicht gesehen hatten. Der Pole steckte das Essen weg und nach ein paar Drinks begann er polnische Lieder zu singen. Er wollte mich umarmen, als wenn wir Brüder wären.
Ernst trank ein bisschen zu viel und wurde betrunken, aber er redete nicht, sondern stammelte nur. Die Frau beobachtete uns sowohl mit Freude als auch mit Misstrauen. Ich trank sehr wenig. Ich hatte Angst davor, betrunken zu werden, denn ich musste die Situation einschätzen und planen, was als Nächstes zu tun sei. Ernst wollte hinausgehen, aber ich verweigerte ihm das; in der Nacht war es sicherer, drinnen zu bleiben.
Wir wurden zum Schlafzimmer geführt und uns wurden die Betten der Besitzer gegeben. Bevor ich schlafen ging, wollte ich mich waschen. Ich hatte mich viele Tage nicht gewaschen und war schrecklich krätzig. Sie machten einen Kessel Wasser warm und gaben mir ein Becken und einige saubere Kleider, die die Frau des Schmieds aus dem Kleiderschrank nahm. Ich fühlte mich, als wenn ich einen Eimer Dreck abgewaschen hätte. Mein Freund machte dasselbe und dann gingen wir zu Bett – das erste Mal in so vielen Jahren in einem sauberen Bett mit Betttüchern und Bettdecke.
Als ich mich hinlegte, schrie ich auf: Die Matratze war so weich, dass ich dachte, ich würde versinken. Ich griff nach der Bettdecke um mich zu retten und fiel heraus. Dasselbe passierte Ernst. Wir waren nicht mehr an solchen Betten gewöhnt. Erschreckt kam die Frau herein. Als wir ihr erzählten, was passiert war, begann sie zu lachen und rief nach den Hausmägden, um ihnen von diesem höchst ungewöhnlichen Wunder zu erzählen.
Ich konnte nicht einschlafen. Ich war voller Eindrücke von den letzten paar Tagen und mein Herz war so überfüllt mit Freude, dass ich mich beruhigen konnte. Was sollte ich nun tun? Sollte ich zum Lager zurückgehen, um zu sehen, was mit meinen Freunden geschehen war? Sollte ich hinausgehen und versuchen die amerikanischen Truppen zu treffen? Ich wollte Ernst um Rat fragen, aber er schlief so geräuschvoll, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihn zu wecken. Sein Gesicht war so ruhig, so zufrieden, sein Lächeln so rein. Kein Zweifel, er hatte wunderschöne Träume.
Sobald das Tageslicht durch die Fensterläden strahlte, stand ich auf und weckte ihn. Ich brauchte lang dazu. Als er die Augen aufmachte, fing ich an zu schreien: „Auf! Auf! Appell! Komm Mensch! Wir müssen General Patton treffen. Er wartet auf uns!“
Wir wuschen uns schnell und zogen unsere gestreifte Kleidung an, weil das unser Zeichen war, aber die Frau wollte uns nicht gehen lasen, bevor wir nicht gefrühstückt hatten.
„Du siehst, Ernst“, sagte ich, „die Unterkunft ist für uns hergerichtet worden. Wir müssen uns nicht mehr mit den Hennen um unsere Nahrung streiten. Gehen wir hinüber und geben ihnen etwas von dem Essen, so dass sie nicht sauer auf uns sind.“
Wir gingen auf die Straße hinaus. Die Leute starrten uns an, als hätten wir den Krieg im Alleingang gewonnen.
Der Pole rief sofort die anderen Zwangsarbeiter des Dorfes zusammen: Polen, Tschechen, Jugoslawen, Italiener, und Ukrainer. Ich hielt eine Rede für sie:
„Nun sind wir frei und werden zurück zu unseren Familien können. Unglücklicherweise werden viele von uns ihre Familien nicht mehr finden, die von den Nazis ermordet wurden, oder unsere Häuser, die zerstört wurden. Wir sollten unsere Mörder und Quäler und ihre Handlanger aufspüren und ihnen ihre Brutalität zurückzahlen. Hitler quälte und zerstörte nicht nur uns Fremde, unsere Häuser und Städte. Er brachte auch Zerstörung über sein eigenes Land. Millionen Opfer, Millionen Witwen und Waisen – das ist das Endresultat seines kranken Krieges, das ein Mensch über die Welt brachte. Aber wir wollen uns verantwortungsvoll benehmen. Wir wollen nicht rauben und plündern. Bevor wir etwas anderes tun, müssen wir uns mit den Kommandanten der amerikanischen Armee treffen, die gekommen sind, um uns zu befreien.“
Alle nichtjüdischen Zwangsarbeiter lachten über meine Naivität. Jeder von ihnen war schon in die besten Kleider seines Herrn oder dessen Nachbarn gekleidet. Alle von ihnen hatten Taschen voll mit „geborgten“ Wertsachen. Aber jeder stimmte zu, dass wir hinausgehen und die amerikanischen Führungspersonen treffen. Manche stibitzten einen großen Pfosten und jemand „organisierte ein Hemd aus einem Haus. Die weiße Fahne des Waffenstillstands wurde mir gegeben, um sie zu tragen. Ich kannte den Weg zum nächsten Bahnhof und so führte ich die Prozession durch die umgebenden Wälder.
Wir kamen an eine Kreuzung, wo ein Sherman-Panzer geparkt war, in dem ein weißer Offizier saß und hinter ihm ein riesiger schwarzer Soldat, der etwas kaute. Als er uns sah, fiel sein Kinn herunter und seine Augen rollten vor und zurück in seinen weißen Höhlen.
„Wer seid ihr?“ rief der Soldat, und umklammerte die Maschinenpistole in seinen Händen.
Ich erklärte in schlechtem Englisch, dass wir ausländische Zwangsarbeiter und Insassen von Konzentrationslagern wären, dass wir von verschiedene europäischen Ländern kämen und das wir uns dem Kommandeur vorstellen wollten.
Der Soldat schätzte uns ab vom Scheitel bis zu den Zehen und lächelte, wobei er uns glänzend weiße Zähne zeigte. Er öffnete seinen Rucksack und nahm Cookies, Schokolade und Kaugummis heraus, die er zwischen uns verteilte. Er sagte uns auch, dass wir nach Ampfing gehen sollten.
Auf dem Ampfinger Markplatz brannte ein Freudenfeuer. Um das Feuer herum wärmten sich Soldaten von verschiedenen Divisionen und Rängen, denn es blies ein kalter Wind. Jeeps und Lastwägen flitzten in alle Richtungen, von Ordonnanzen mit Karten dirigiert. Die Seitenstraßen waren von Panzern und gepanzerten Autos blockiert. Ich fühlte mich verloren wie auf einer Hochzeit, wo ich keinen der Zelebranten kenne. Ich stand unter den Soldaten und beobachtete, was passierte. Quer über den Platz stand ein amerikanischer Offizier, der seine Augen nicht von mir ließ. Es war als ob seine Augen Löcher in mich hineinbrennen würden. Plötzlich verschwand er. Nicht lange danach fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich um und sah ihn und hörte ihn fragen: „Bist du ein Jude? Ich bin ein jüdischer Junge.“
Es war, als ob er einen elektrische Ladung durch mich schickte. Ein Jude! Ein Bruder, der seine warme Hand nach mir ausstreckt! Es war zu viel für mich. Ich brach zusammen. Ich verlor meine Sprache und meine Augen waren mit Tränen gefüllt. Es war, als ob ein Damm gebrochen wäre und mein Herz mit Tränen überschwemmt hätte. Ich schluchzte wie in einem Krampf. Ich konnte mich nicht beruhigen. Ich fiel hin und warf mich selbst herum. Ich explodierte. Viele Male während der Jahre im Lager hatte ich das Bedürfnis gehabt, mein Herz herauszuschreien, mich selbst zu entlasten von meiner Einsamkeit und Verzweiflung, aber niemals konnte ich weinen. Es war als ob meine Tränenquelle versiegt wäre. Nun wurde ich plötzlich von Tränen überschwemmt.
Ich hatte mir vorgestellt, dass in Europa keine Juden übrig waren, dass wir die letzten Überreste unseres ermordeten Volkes wären. Unter uns waren Juden aus allen europäischen Ländern gewesen, aus allen Ländern, die von den Juden geleert waren. Der größte Teil war in den Gaskammern vergast worden und eingeäschert in den Krematorien. Nur eine Handvoll war über Europa verteilt als Zwangsarbeiter. Nun sah ich plötzlich hier einen amerikanischen Juden, einen wahren Bruder mit Fleisch und Blut, in der Uniform eines Offiziers der amerikanischen Armee, der geholfen hatte, die Nazischlange zu köpfen. Er streckte die Hand nach mir aus wie ein Bruder. Mein Kopf drehte sich und ich wurde ohnmächtig.
Ich weiß nicht, was mit mir danach passierte. Ich weiß nur, dass ich in einem Bett aufwachte. Ich sah an meiner Bettstatt einen Militärarzt und eine Krankenschwester, die von meiner Stirn den Schweiß wischte. Es dauerte zwei Tage, bis ich mich von meinem Schock erholte. Während dieser Zeit traf ich viele hochrangige Offiziere. Manche von ihnen sprachen gebrochen jiddisch und manche sprachen fließend deutsch. Sie fragten mich, wo ich herkäme und ob ich eine Familie hätte. Von meiner Familie in Polen hatte ich wenig Hoffnung, jemanden zu finden. Ich wusste, dass meine Mutter mit einem Transport nach Treblinka weggebracht worden war. Ich wusste nichts über meinen Bruder und seine Familie in Krakau.
Später erfuhr ich, dass die ganze Familie meines Bruders sich in einem Keller in Krakau-Plaszow versteckt hatte. Ein Verräter verpfiff sie und ihr Versteck wurde entdeckt. Als die Gestapo kam, rannte mein Bruder weg, aber als er sah, dass die Gestapo seine Frau und seine Tochter mitnahmen, stellte er sich ihnen, weil er nicht von ihnen getrennt sein wollte. Die Bestie der Krakauer Gestapo, Heinrich Hamann, richtete sie hin.
Mein Bruder und seine Frau hatten ihr jüngstes Kind, ein Junge mit drei Jahren in die Obhut einer polnischen Frau gegeben, die für sie fünf Jahre gearbeitet hatte und den Kindern sehr zugetan war. Von dieser Frau später mehr.
Ich wusste, dass ich einen Bruder in Brasilien hatte, in Rio de Janeiro und auch Verwandte in den Vereinigten Staaten und Kanada, aber ich erinnerte mich nicht an ihre Adressen. Sie versprachen, nach meinen Verwandten zu suchen und ihnen mitzuteilen, dass ich überlebt hatte.
74 Ich werde ein Vertrauensmann der US Army
Sobald dich von dem Bett aufstand bat ich den Kommandeur zum Waldlager hinausfahren zu dürfen, um zu sehen, was mit den Kranken geschehen war. Eine Karawane von etwa 30 Jeeps wurde organisiert an deren der Oberbefehlshaber der 7. Armee war. Wenn ich keinen Fehler mache, dann war das General Hodges. Ich fuhr in dem Jeep an der Spitze, um ihnen den Weg zu zeigen.
Es war Frühling und die Sonne wärmte uns das Gesicht. Der Wald duftete nach erwachender Natur. Dies war einer der glücklichsten Morgen meines Lebens. Hier war ich, ein freier Mann, der gerade die Ketten der Sklaverei abgeschüttelt hatte und führte vier der höchsten Kommandeure der amerikanischen Befreiungsarmee zum Lager, wo ich vor kurzem um meine Existenz gekämpft hatte. Ich nahm sie mit zum Spital, wo die Betten voll mit sterbenden Häftlingen waren, die zu schwach waren, um sich erheben zu können. Als die Kommandeure diese skelettierten Körper sahen, mit ihrer gelben Haut, die mit Wunden und Eiterbeulen bedeckt waren, fingen einige von ihnen zu weinen an. Dies waren kampferprobte Kriegsveteranen, die wiederholt dem Tod ins Auge gesehen hatten und jetzt, als sie diese lebenden Toten sahen, brachen sie in Tränen aus.
Einer der Kranken wurde ohnmächtig, als er die amerikanischen Kommandeure sah. Als wir ihn wiederbelebt hatten, flüsterte er durch ausgedörrte Lippen: „Genug. Darauf habe ich gewartet. Nun kann ich sterben.“ Und er tat es.
Die Kommandeure ordneten an, dass das OT-Hauptquartier, eines der größten Gebäude in Ampfing vollständig geleert und in ein Krankenhaus für Lagerinsassen umgewandelt werden sollte. Zudem wurde die ganze deutsche Bevölkerung der Gegend mobilisiert, die Kranken zu transportieren und ihnen Betten, Bettwäsche und Kleidung zu bringen. Mir wurde die Verantwortung übertragen, das alles zu beaufsichtigen und es wurden mir 20 Soldaten und Offiziere zur Seite gestellt, die mir halfen.
Aus allen Richtungen fingen Leute an, Betten und Bettwäsche zu bringen. In der Zwischenzeit fuhren wir mit einer Karawane von 20 Wagen und Krankenwagen hinaus zum Waldlager, trugen die lebenden Skelette aus den Baracken und legten sie in die sauberen Betten. Alle Ärzte im entsprechenden Gebiet wurden herangezogen, um die Kranken unter der Oberaufsicht der amerikanischen Militärärzte zu untersuchen und Behandlungsverfahren zu beginnen. Alle notwendigen medizinischen Vorräte wurden von den Apotheken in der Umgebung requiriert. Die Medikamente, die nicht verfügbar waren, wurden per Luftfracht aus Frankreich und sogar aus den Vereinigten Staaten hergebracht.
Es war unmöglich, viele der Kranken zu retten. Viele starben nicht an Erkrankungen, sondern einfach, weil es zu spät war – sie ähnelten nicht mehr menschlichen Wesen. Sie waren Wracks, Haut und Knochen. Aus ihren Augen schaute der Tod heraus.
Eine große Gruppe von deutschen Krankenschwestern wurde mobilisiert, die sie versorgten. Diese deutschen Mädchen arbeiteten sehr willig, weil sie gutes Essen bekamen und die Gelegenheit amerikanische Soldaten zu treffen und mit ihnen zu flirten.
Sobald ich getan hatte, was mir möglich war, die Kranken zu versorgen, wurde mir ein anderer „Job“ zugeteilt: die Suche nach Kriegsverbrecher. Ich kannte sie alle und wusste, wo sie zu finden waren. Die Deutschen selber denunzierten sie und zeigten, wo sie sich versteckt hatten. Mir wurden ein Offizier und zwei Soldaten zugeteilt und wir fuhren herum und suchten nach den SS- und Gestapo-Henkern. Ich fand sie und händigte sie den Amerikanern aus. Zu meinem Bedauern kamen die meisten mit leichten Strafen davon.
Mein Name wurde unter den deutschen Zivilsten bekannt. Der Schmied und seine Frau kamen, um mich zu sehen. Er kam, wie er sagte, nur um zu sehen, wie es mir ging, aber er ging nicht mit leeren Händen. Ich gab ihnen Lebensmittel für einen ganzen Monat, genauso wie Kleidung und Nylonstrümpfe für seine Frau. „Das gebe ich euch als Rückzahlung für das Durchfüttern in einer Woche“, sagte ich ihnen. „Das ist für euch und für die Hennen, die ich betrogen habe. Ich will auch nicht, dass jemand euch etwas zu Leide tut. Wenn etwas passiert, dann lasst es mich sofort wissen und ich werde euch beschützen. Und dir Frau“, sagte ich zu der Frau des Schmieds, „fall nicht in Ohnmacht, wenn du die Gelegenheit hast, jemanden zu retten.“
Diejenigen, die aus den Lagern befreit worden waren, liefen ziellos herum. Bis zu der Zeit, bis sie in Flüchtlingslager gesammelt wurde und die US Armee auf sie schaute. Die meisten wussten nicht, wo sie hingehen sollten, oder was sie mit sich selber machen sollten. Die polnischen Juden wussten sehr gut, dass ihre Häuser zerstört worden waren und ihre Familien ermordet. Die meisten blieben in Mühldorf oder Ampfing in der Zeit, die sie auf ihre Dokumente warteten und machten erste Kontakte. Während des Tages streiften sie durch die Straßen; am Abend hatten sie anfänglich nichts zu tun. Das OT-Gebäude, das in ein Krankenhaus umgewandelt worden war, hatte einen großen Freizeitraum und der wurde in einen Club für jüdische Häftlinge umgewandelt, die sich am Abend versammelten und Filme anschauten, Spiele spielten und tanzten. Die amerikanischen Soldaten, besonders die jüdischen Soldaten und Offiziere kamen auch hierher, um zusammen mit uns zu feiern. Ein ähnliches Erholungszentrum für frühere Insassen wurde in einem zerstörten Museum in München eingerichtet.
Nun will ich einen Akt „jüdischer Rache“ beschreiben, der im Vergleich zu dem, was die Deutschen mit uns machten, wie ein Kinderspiel aussieht. Eines Tages, während ich die Hauptstraße in Ampfing entlangschlenderte hörte ich jemanden, der sich von hinten näherte. Plötzlich rief eine Frau meinen Namen. Ich drehte mich um und sah die Frau, die mich jedes Mal vom Fenster des OT-Hauptgebäudes beobachtet hatte, wenn ich Abwässer aus der Grube pumpte. Anscheinend amüsierte es sie, mich zu beobachten; es fiel ihr aber nie ein, mir ein Stück Brot zuzuschieben. Nun suchte sie mich aus, um mich zu erinnern, dass wir miteinander bekannt waren.
„Du erinnerst dich“, sagte sie, „wenn ich dich beobachtet habe, wenn du im Hof von unserem Hauptquartier gearbeitet hast. Ich fühlte so tief für dich und dachte daran, wie ich dir helfen könnte.“
„Sicher dachtest du daran“, antwortete ich, „aber du hast keinen Entschluss gefasst. Deine Blicke haben meinen Hunger nicht gestillt.“
„Ich wollte dir helfen, aber es war zu gefährlich, deshalb wollte ich dich nur durch meine Anteilnahme ermutigen.“
„Ja“, sagte ich sarkastisch, „Das ist dasselbe Mitgefühl, dass man einem Mann entgegen bringt, der gehängt wird, während man die Schlinge um seinen Hals legt.“
Ich wollte weggehen, aber sie hängte sich an mich und versuchte sich an mich zu kuscheln:
„Mein Lieber, ich habe immer mit dir gefühlt und will zukünftig dein Freund sein. Ich feiere heute meinen Geburtstag und will dich dazu einladen.“
Ich verstand sehr gut, was hinter all dem steckte: Sie hatte von meinen Beziehungen und meinem Ansehen bei den Amerikanern gehört, und versuchte nun über mich etwas zu bekommen. In diesem Augenblick kam mir in den Sinn, wie ich sie für ihre Scheinheiligkeit bestrafen könnte. Ich dankte ihr für die Einladung, nahm ihre Adresse entgegen und versprach zu kommen, wenn ich konnte. Dann fragte ich, ob ich ein paar Freunde mitbringen könnte. Sie sagte mir zu und ließ mich wissen, dass mich ihre Freunde auch kennenlernen wollten.
Ich kehrte ins Hauptquartier zurück und suchte drei amerikanische Soldaten aus, die für ihre Trunksucht und Brutalität bekannt waren. Ich gab ihnen ihren Namen und ihre Adresse, erzählte ihnen die Situation und versicherte mich, dass sie genügend Schnaps mitnahmen.
Am folgenden Tag, als ich die Soldaten traf, waren sie immer noch betrunken. Sie erzählten mir von den Orgien, die sie mit der Frau gefeiert hatten. Später lief sie auf mich zu und beklagte sich, dass ich nicht gekommen war und an meiner Stelle betrunkene Soldaten geschickt hatte, die alle anderen aus dem Haus gejagt hatten und sie gezwungen hatten, Dinge gegen ihren Willen zu tun, Aber auf die Art wie sie davon sprach, hatte sie das nicht schwer verletzt.
Ich wollte weg vom blutgetränkten deutschen Boden. Ich konnte die Luft, die Atmosphäre und die Gesichter nicht mehr aushalten. Ich stellte mir vor, dass ich alle diese Gesichter bei den Gaskammern und den Krematorien gesehen hätte, an den Sammelstellen und den Transporten, bei den Aufhängungen und Hinrichtungen. Soweit es mich betraf, waren alle Hände der Deutschen mit dem Blut von Juden beschmiert. Auch wenn sie nicht persönlich gemordet hatten, hatten sie es gewusst und hatten diejenigen ermutigt, die es getan hatten. Ich erinnerte mich an die alte Wache der Wehrmacht in Sosnowicze: Ich dachte, dass er ein „guter“ Deutscher gewesen wäre, während wir in einem Hof zusammengetrieben wurden in der Nacht, als der Regen auf uns niederströmte, wo ich ihn gebeten hatte, eine Decke für ein halbnacktes Kind holen
zu dürfen und er hatte mir gedroht, mich mit dem Gewehrkolben zu schlagen.
Ich wollte Deutschland auch verlassen, um Überlebende meine Familie zu suchen.
Transporte nach Frankreich wurden für eine Gruppe von Überlebende der Lager wurden organisiert, und ich trug mich ein, um mich anzuschließen. Ich hatte viele Freunde unter den französischen Juden. Sie ermutigten mich, mit ihnen zu kommen und halfen mir, dass ich auch in diesen Transport aufgenommen würde. Jeden Tag verließen Gruppen wie diese den Münchner Flughafen in Karlsfeld mit amerikanischen Flugzeugen. Am 23. Mai 1945 verließ ich mit dem ersten dieser Flugzeuge Deutschland. Es gab eine Abschiedsparty für mich am Ampfinger Erholungszentrum, an dem mehrere amerikanische Offiziere teilnahmen und ein weiteres an dem Zentrum in München.
Unser Flugzeug nach Paris war geschmückt mit amerikanischen und französischen Flaggen. Ich war sehr gerührt während des Fluges. Es war meine erste Reise als freier Mann nach so vielen Jahren als Häftling. Ich hatte nicht mehr daran geglaubt, dass das geschehen würde, aber nun war ich der Hölle entkommen und flog in einem amerikanischen Flugzeug in die freie Welt. Ich sah Paris auch das erste Mal. Ich hatte viel gehört und gelesen von dieser schönen Hauptstadt der Liebe und der Freiheit. Meine Freunde im Lager konnten nie aufhören das phantastische Leben in dieser Stadt zu beschreiben. Nun war einer der kühnsten Träume dabei realisiert zu werden: ich sah es mit meinen eigenen Augen. Dies spendete mir viel Kraft.
Nach einem 90-Minuten-Flug landeten wir auf einem Flugfeld in der Nähe von Nancy. Diese Stadt ist international berühmt für seine Universität. Freunde von mir hatten vor dem Krieg dort studiert. Der Bürgermeister und ein große Menge kam und begrüßte uns, indem sie die „Marseillaise“ sangen und die Stadt „wurde uns übergeben“. Einer unserer gruppe dankte dem Bürgermeister für den freundlichen Empfang: wir waren nicht nur der Tyrannei entflohen, den so war Frankreich und so war die ganze freie Welt. Praktisch die ganze Stadt hatte sich am Flughafen versammelt, um uns zu bejubeln. Leute warfen uns Blumen zu und viele Mädchen durchbrachen die Absperrung und küssten uns.
Ein Bankett würde für uns in der Stadthalle abgehalten. Nur vom besten und Feinsten wurde serviert. Frauen hatten sich freiwillig gemeldet, um uns zu bedienen und erschütterten uns mit so viel Freundlichkeit und Liebe, dass wir zu Tränen gerührt waren.
Dies war ein Wendepunkt in meinem Leben. Dies war ein Empfang für französische Bürger, die aus den Nazi-Lagern zurückkamen. Bei dieser freudvollen Gelegenheit war ich ein Fremder, ein polnischer Bürger, also was machte ich hier? Die Mädchen sprachen mich französisch an. Ich verstand sie nicht und konnte ihnen nicht antworten, so deutet ich auf meinen Hals und gab zu verstehen, dass ich die Stimme verloren hatte. Sie sahen Tränen in meinen Augen und fühlten Mitleid mit mir und dachten, dass ich krank sei. Ich war trunken von dem was ich hier sah und spürte. All das war neu für mich; ich hatte etwas in meiner Heimat nie gesehen. Würden die Polen einem Heimkehrer so etwas Warmherziges geboten haben? Ich erinnerte mich, die Polen in den Wäldern Juden gejagt hatten um sie zu ermorden oder den Nazis für ein paar Kilo Zucker zu verkaufen.
Stündlich kam an diesem Tag ein weiterer Transport aus München an. Sobald sich ein paar Heimkehrer versammelt hatten, wurden wir alle zum Bahnhof gebracht, in einen Personenwagen verladen und nach Paris gebracht. Der Zug war mit französischen Flaggen geschmückt und in allen Städten durch die wir fuhren, jubelten uns die Leute zu und winkten mit den Flaggen. Die Mädchen warfen Blumen und küssten uns. Ich war voller Freude. Ich saß mit meinen Freunden vom Lager zusammen und ließ mich von den französischen Liedern betäuben. Für diesen Augenblick allein war es der Kampf um das Überleben wert gewesen.
Ich bedauerte zutiefst, dass mein Freund Avraham Suchodolsky nicht unter uns war. Er hatte zurückbleiben müssen, während das Lager evakuiert wurde. Ich hatte bisher noch nicht erfahren, dass mein Freund vom polnischen Untergrund getötet worden war. Er hatte mir so viele Geschichten über Paris erzählt und hatte mir versprochen, mich nach der Befreiung dorthin mitzunehmen, um mir diese legendäre Stadt zu zeigen.