Ausschnitte aus Stephen Nassers Buch: Die Stimme meines Bruders, edition innsalz 2011(ISBN 9 783902 616418)
S. 89
Ein neues Projekt
Von dem heutigen Aussichtspunkt am gegenüberliegenden Ende der großen Lichtung haben wir einen Blick aus der Vogelperspektive auf die kolossalen Ausmaße des Projektes, an dem wir zu arbeiten gezwungen sind. Unter uns gähnt eine von Menschen gemachte Schlucht mit riesigen Ausmaßen, mindestens 60 Meter tief und 800 Meter breit. Die Länge kann ich nicht abschätzen, weil sie schon fest bebaut ist und nur noch am Dach gearbeitet wird. Von unserem Standpunkt aus ähnelt das bereits Erbaute einem riesigen Netz aus Stahl. Der unvollendete Teil des Daches ist allein um die 150 Meter lang. Und was den Rest betrifft, wer weiß das schon? Er erstreckt sich weit in den Wald hinein. Das Gebäude wird schon von Zügen auf zwei verschiedenen Ebene befahren. Es sieht so aus, dass allein der Eingang drei Stockwerke hoch ist, und bis zum Dach schließen sich leicht weitere 15 Meter an. Über dieses Stahllabyrinth spannen sich Brücken, die breit genug sind, um schmalspurige Transportzüge mit ihrer Ladung aus Fertigbeton zu tragen.
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S.109
Arbeit und Ärger
Heute Morgen ist der Marsch zur Arbeit durch den kalten und schlammigen Wald härter als je zuvor. Andris fällt häufig in den Schlamm. Mit zunehmenden eigenen Problemen helfe ich ihm beim Aufstehen, gewöhnlich rutsche und gleite ich selbst hin bei diesem Prozess. Bis wir die Arbeitsstelle erreichen, sehen wir beide wie Schmutzfinken aus und fühlen uns auch so.
Heute werden wir genau wie am Vortage zu den Betonarbeiten eingeteilt. Bevor wir mit der Arbeit beginnen, suche ich mir wieder ein paar leere Zementsäcke, um uns neue Kapuzen und Jacken für das schlechte Wetter an diesem Tag anzufertigen. Das übrig gebliebene Zementpapier plane ich als Ergänzung für das Tagebuch ein, das ich führe.
Heute Morgen arbeiten wir neben einem riesigen Holzgebäude, das zwei Stockwerke hoch ist. Eine lange Rampe führt im 45°-Winkel von dem ersten in das zweite Stockwerk. Volle Zementsäcke (jeder davon wiegt ca. 35 Kilo) müssen auf den Schultern die Rampe hinauf getragen werden. Am oberen Ende der Rampe warten zwei Männer, die die Zementsäcke von unseren Schultern nehmen, sie öffnen und den Inhalt in einen langen Trichter schütten, der wiederum einen riesigen Mischer mit dem Zement füttert. Ungefähr 8 Meter davon entfernt, auf derselben Etage liegt ein Haufen Kies.
Neben dem Kieshaufen ist ein anderer Trichter, ungefähr zwei mal zwei Meter groß. Dieser Trichter ist eineinhalb Meter tief, mit einem zylinderförmigen Rotor, dessen Stahlschaufeln sich bis zum Trichterrand erstrecken, um die Kieselsteine zu zerkleinern und sie mit Sand zu vermischen. Auf der anderen Seite des Gebäudes befinden sich all die anderen schweren Teile der Mischanlage.
Genau unter unserer Arbeitsstelle fahren die Züge kontinuierlich vor und zurück; ihre schwenkbaren Spezialwagen sind mit Beton gefüllt. Nacheinander überqueren sie die Brücken und kippen ihre Ladung auf die massive Dachkonstruktion, die netzartig mit Stahlmatten unterlegt ist. Der gesamte Vorgang läuft wie ein Uhrwerk ab.
Heute müssen Andris und ich sofort Zementsäcke die Rampe hinauf tragen. Im unteren Stockwerk legen andere Häftlinge uns die schweren Säcke über die Schultern in den Nacken. Wir müssen die Säcke an den Ecken über den Schultern packen und einen Sack nach dem anderen in gebückter Haltung die Rampe hinauftragen. Wie gehen dann zurück, um weitere zu holen.
Nach kurzer Zeit bin ich durch die Belastung des Sacktragens erschöpft. Nach einigen Gängen versagen mir die Beine, so als ob sie aus Stroh wären. Schwach wie eine Vogelscheuche falle ich auf der Rampe hin, wobei der Zementsack, den ich getragen habe, zerplatzt. Benommen und atemlos werfe ich aus meiner liegenden Position einen Blick nach oben und erkenne denselben SS-Mann, der mir die Hand zerquetscht hat und sich mir nun drohend nähert. Seine Augen leuchten wutentbrannt. Er schaut wie ein Ungeheuer, das er auch ist, auf mich herab, tritt mir in die Rippen und schreit: „Steh auf, die fauler, jüdischer Bastard!“ Ich bin schon halb aufgestanden, als er mich noch einmal tritt. „Beeil dich, dass du auf die Beine kommst, du Laus!“
Dann befiehlt er mir, nach unten zu gehen und weitere Säcke zu holen. Meine Beine fühlen sich wie dünne Gummistöcke an, die jede Minute unter mir zusammenbrechen können. Tränen der Erschöpfung und der Verzweiflung fließen meine Wangen herunter. Aus den Augenwinkel sehe ich Andris’ gequälten Blick, als er mich in meiner Notlage sieht und nicht helfen kann.
Ich bin die Rampe halbwegs oben, als meine Beine wieder versagen. Aber diesmal hält der verantwortliche Armee-Ingenieur den SS-Mann davon ab, mich weiter zu misshandeln.
„Dieser Einsatz steht unter meiner Verantwortung“, erklärt der Ingenieur dem sadistischen SS-Mann.
„Können Sie nicht sehen, dass der Junge zu schwach für die Arbeit ist?“
Der SS-Mann starrt mich an, verflucht mich mit unverständlichen Worten und kehrt auf seinen Posten zurück.
„Komm mit mir“, sagt der Ingenieur. Meine wackligen Beine bewegen sich so schnell sie können und folgen dem Ingenieur die Treppe hoch.
Irgendwie schaffe ich es zur Plattform, wo er mir eine Schaufel übergibt. „Siehst du den Sand hier?“ sagt er. „Schippe den Sand in diesen Trichter. Gib auf die dicken Steine acht. Nimm sie heraus und wirf sie dort runter.“ Er zeigt auf eine Stelle die durch einen Kreis markiert ist, auf der die Steine geworfen werden sollen.
„Ja.“
„Noch eine Warnung, Junge. Fall nicht in den Trichter! Siehst du die Stahlklingen dort? Vor ein paar Wochen haben sie einen Häftling zerstückelt. Nichts ist von ihm übrig geblieben! Er ist nun Teil des Fertigbetons!“
„Was für eine schreckliche Art zu sterben“, denke ich mir und erinnere mich dabei an den Unfall von gestern, bei dem der Bruder des Mannes getötet wurde, den wir am späten Abend getroffen hatten. Aber ich sage nur: „Ich werde vorsichtig sein. Und vielen Dank für die Freundlichkeit. Sie haben mir wirklich geholfen.“
„Er lächelt mir beruhigend zu, als er geht. Es dauert dennoch eine halbe Stunde, bis ich die Übelkeit, die durch das Treten verursacht wurde, überwinde und nach der Belastung des Aufhebens und Tragens der Säcke wieder zu Atem komme. Meine neue Betätigung bereitet mir keine Schmerzen.
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Anstatt zur gewohnten Zeit in das Lager zurückzumarschieren, erhalten wir heute eine Extraportion warmes Essen und den Befehl, am Abend weiter zu arbeiten. Die Betonmaschinen können in dieser Phase nicht angehalten werden. Zum Abendessen bekommen wir eine einstündige Ruhepause, die in Schichten eingeteilt ist, damit einige von uns Häftlingen ständig arbeiten.
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Nach ein paar Minuten stoße ich mit meiner Schaufel auf einen ungewöhnlich großen Stein. Ich muss beide Hände zum Anheben benutzen, aber als ich das tue, ist er zu schwer für mich, um ihn in den designierten Kreis zu werfen. Ich beschließe, mich mit ihm später zu beschäftigen, lege ihn wieder hin und mache mit dem Schaufeln weiter. Als ich bei dem Klang schwerer Schritte wieder aufblicke, erkenne ich meine Nemesis wieder, den SS-Mann der meine Hand zerquetschte und mich zuvor in die Rippen trat.
Er eilt zu der Stelle, an der ich schippe und zeigt mit dem Finger auf den markierten Kreis. „Dort gehört der Stein hin, du dummer Esel!“
„Ich habe es versucht, aber der Stein ist zu schwer...“, versuche ich den Satz zu beenden, aber bevor ich weiß, was geschieht, schlägt er mich mit einem harten Schlag direkt auf meine Nase zu Boden. Blut rinnt mir die Kehle herunter. Ich schlucke es und kann kaum noch atmen. Ich liege auf dem Boden, genau neben dem riesigen, zermalmenden Trichter. Er tritt mir mehrmals fest in die Rippen. Es gelingt mir, seinen Fuß festzuhalten, genau über meinem Gesicht! Ich sehe schon die Stahlnägel auf mich zukommen, und Gott weiß, ich habe sie schon zuvor spüren müssen. Ich darf diesem Biest nicht erlauben, mein Gesicht zu zerstören, so wie er es mit meiner Hand getan hat. Mein Widerstand macht ihn noch wütender. Das Ungeheuer ergreift die Schaufel und beginnt, mit dem Stiel auf mich einzuschlagen. Ich rolle mich zu einem Ball zusammen. Schließlich gelingt es mir irgendwie, die Schaufel zu ergreifen. Dies treibt ihm den Schaum vor den Mund, wie einem tollwütigen Köter.
Als Nächstes entreißt er mir die Schaufel aus den Händen und zielt mit dem Schaufelblatt auf meinen Kopf. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod!
Ich wehre den Schlag mit dem Schaufelblatt ab, indem ich meinen Arm zur Seite drehe. Er verfehlt mich. Ich ergreife den Stiel, entreiße ihm die Schaufel und werfe sie in den Trichter. Schon bald höre ich das laute Knirschen von Stahl und Holz in der Zerkleinerungsmühle, welche die tödliche Waffe des SS-Ungeheuers schnell und gierig zermalmt. Aber dann hebt mich mein Feind an der Taille hoch, bereit, mich lebendig in die hungrigen Stahlmesser zu werfen. Und dann ... Finsternis!
Als ich zu mir komme, schwebt Andris’ blasses und nachdenkliches Gesicht über mir. Er versucht vorsichtig meinen Kopf anzuheben, aber schafft es nicht. Das Blut, das von meinem Kopf tropfte, als ich dort lag, ist tatsächlich an dem Zementsack, auf dem ich liege, fest gefroren. Irgendjemand bringt von irgendwoher genügend heißes Wasser, um das gefrorene Blut von meinem Gesicht aufzutauen. Schließlich kann ich meinen Kopf von dem Sack hochheben.
Andris hilft mir auf die Beine. Ich bin entschlossen ohne Hilfe zu gehen und ich tue es auch, aber schwankend.
Ich fahre mit der Hand Stück für Stück über mein Gesicht und vergewissere mich, dass noch alles vorhanden ist. Nichts fehlt, aber die Nase und die Lippen sind fürchterlich geschwollen, beide Hände haben Schnitt- und Kratzwunden und sind voll Blut.
"Andris, was ist mit mir passiert?“ frage ich.
„An was kannst du dich als Letztes erinnern?“
„Das Letzte, was ich sah, waren die Messer der Maschine. Davor hatte mich der SS-Mann hochgehoben und wollte mich hineinwerfen. Danach erinnere ich mich an nichts mehr.“
Andris sagt: „Ich war dabei, Zementsäcke am oberen Ende der Rampe zu entleeren, als ich Schreie hörte. Ich schaute hinunter und erkannte die Gefahr, in der du warst und schrie um Hilfe. Der Ingenieur kam die Rampe hochgelaufen. Als der SS-Mann dich hochhob, um dich in den Trichter zu werfen, befahl der Ingenieur ihm Einhalt und entriss dich den Armen des SS-Mannes. Er war es auch, der dich auf den Zementsack gelegt hat. Später hat er das heiße Wasser geholt, um dich aus deinem Blut vom Sack loszutauen.“
Ich schaue zu dem Ingenieur, meinem Retter, der noch in der Nähe ist und mich beobachtet, wie ich herumstolpere und versuche mich zurecht zu finden. „Dankeschön“, sage ich leise zu ihm mit geschwollenen Lippen. „Vielen, vielen Dank, dass Sie mir das Leben gerettet haben und für alles andere, das Sie heute für meinen Bruder getan haben.“ (Er hatte ihm einen leichteren Arbeitsposten verschafft. Anm. J.W.)
Er schaut mich an und nickt nur als Antwort. Doch der Ausdruck seiner Augen scheint sagen zu wollen: „Ich schäme mich für die deutsche Armee, die SS und die sogenannte menschliche Rasse.“
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