Für das Erinnern
ovb, 07.03.2016
Im fünften Teil unserer Serie zur NS-Geschichte im Landkreis Mühldorf geht es um ein besonderes Exponat der neuen Dauerausstellung im Haberkasten: Das Totenbuch des KZ-Außenlagers im Mühldorfer Hart.
Mühldorf – Wie viele Häftlinge genau gestorben sind? 2909? 2925? 2989? Oder über 3000? "Ich glaube, wir werden es nie wissen", sagt Josef Wagner. Schon jetzt, nach wenigen Monaten seit der Eröffnung, sei das Totenbuch in der Ausstellung nicht mehr ganz aktuell. "Inzwischen sind es wieder ein paar Namen mehr."
Seit einem Vierteljahrhundert trägt der ehemalige Lehrer die Namen der Toten des KZ-Außenlagers Mühldorf zusammen. Eine Mammutaufgabe, die Ende der 1980er-Jahre bei einem Zeitzeugeninterview mit dem ehemaligen Lagerschreiber Benno Wolf ihren Anfang nahm.
Wolf war noch im Besitz von Unterlagen aus dem Waldlager, 1972 Namen standen auf der von ihm angefertigten Totenliste. "Jeden einzelnen habe ich damals in meinen Atari-Computer eingegeben", erzählt Wagner. Doch schon der Vergleich mit den Listen aus dem sogenannten "Mühldorfer Prozess" machte deutlich: da fehlen Namen; nicht zwei, nicht zehn, sondern hunderte. Josef Wagner fasste die Ergebnisse zusammen, 1991 gab er erneut alle Daten in seinen Computer ein. "Der Artari hatte sich ja technisch leider nicht durchgesetzt."
Im Lauf der Jahre stieß der Träger des Mühldorfer Geschichtspreises auf weitere Quellen: Auf Totenlisten einer französischen Häftlingsvereinigung ebenso wie auf die Datenbank des Amerikaners Stephen Morse. Dabei stand Wagner immer wieder vor der Frage: Welche Namen gehören eigentlich in das Mühldorfer Totenbuch? "Zwischen 50 und 60 Häftlinge sind zum Beispiel erst in den Tagen und Wochen nach der Befreiung gestorben. Dazu gab es im September und November 1944 zwei sogenannte Selektionstransporte mit nicht mehr arbeitsfähigen und kranken Häftlingen, die zurück nach Auschwitz gebracht wurden."
In den letzten beiden Jahren hat Josef Wagner die rund 3000 Datensätze neu sortiert, eineinhalb Stunden saß er dafür jeden Tag am Computer. Angesichts der überwiegend ungarischen Namen mit zum Teil unterschiedlichen Schreibweisen war er bei der Auswertung der Quellen mehr als einmal der Verzweiflung nah. Auch die Häftlingsnummern gaben ihm häufig Rätsel auf: "Die tätowierte Nummer am Arm war meistens eine andere als die Nummer, unter der die Häftlinge in Mühldorf registriert waren."
Aus 19 Spalten einer Excel-Tabelle lässt sich jetzt nicht nur Name, Häftlingsnummer und Geburtsdatum herauslesen, sondern auch die Herkunft und – falls bekannt – die Todesursache.
Dabei hat Josef Wagner nie aus den Augen verloren, was er da tut: "Jeder Name trägt nicht nur eine Nummer und ein Datum, sondern auch eine eigene Geschichte. Und immer, wenn ich über einen Häftling etwas neues herausfinde, gibt mir das ein gutes Gefühl. Weil es ein weiteres kleines Kapitel dieser Geschichte ist." Und doch sei es jedes Mal ernüchternd, wenn er am Ende einer Zeile ankommt. Beim Datum des Todes.
Die neue Dauerausstellung "Alltag, Rüstung, Vernichtung – Der Landkreis Mühldorf im Nationalsozialismus" im Haberkasten ist von Dienstag bis Freitag von 14 bis 17 Uhr sowie samstags und sonntags von 12 bis 18 Uhr geöffnet.