Für das Erinnern
Donnerstag, 28. April 2016, 18 Uhr
(gelesen von Dr. Bosch)
Martin Luther King hat einmal geschrieben: "Wir machen nicht Geschichte, wir werden von ihr gemacht. Zutreffender könnten Worte über mein Leben nicht sein."
Vor 71 Jahren, im Frühjahr und Sommer des Jahres 1945, ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Der schlimmste Konflikt in der Geschichte der Menschheit war fast vorüber und keine einzige Person auf diesem Planeten blieb davon unberührt.
Der Krieg hat mir meine Familie genommen. Meine Mutter, meine Schwestern und mein Stiefvater verschwanden direkt vor meinen Augen in Auschwitz. Ich hatte, abgesehen von meinem Spitznamen „Lazarus“, nicht einmal mehr einen Namen. Ich war nur noch eine Nummer, ein politischer Gefangener, der mit der Nummer 71253 angesprochen wurde. Ich war kein Bürger meines Heimatlandes Ungarn oder irgendeines anderen Landes mehr. Ich hatte keine Papiere und keinen Pass. Ich besaß nichts mehr und ich war gerade einmal 15 Jahre alt.
Mindestens zweimal sollte ich eigentlich sterben. Ich war kaum erkennbar als lebende Person, ich wog weniger als 80 Pfund und hatte eine offene Wunde im Gesicht. Mein Kiefer war zerschmettert, seitdem ich von einem Hitlerjungen in den Hals geschossen wurde. Dies geschah beim späteren sogenannten „Massaker von Poing“. Max Mannheimer, mein Mitüberlebender und weltbekannter Erzieher und Humanist, nannte meine Geschichte die „Biographie eines Kindes, das Auschwitz und Dachau überlebte“.
Ich hatte tatsächlich ein Jahr lang Konzentrationslager und Todeszüge überlebt. Ich überlebte Schläge, Hunger und Folter. Ich überlebte Plätze, die die meisten Kinder einfach nicht überlebten: Auschwitz, Dachau, Allach, Rothschweig, Mühldorf, Mittergars, Poing und erlebte letztendlich meine Befreiung in Tutzing.
Max Mannheimer beschreibt mich in dieser Zeit als „jemanden am Rande der Menschlichkeit, gefühllos und kalt, zu nichts mehr in der Lage“. Die Einsamkeit, Brutalität und permanenter Hunger drohten tatsächlich, mich in etwas zu verwandeln, was nicht mehr menschlich war.
Wenn ich heute auf dieser Gedenkfeier vor ihnen stehe, bin ich in Gedanken an den Plätzen meiner schlimmsten Erniedrigungen und völliger Einsamkeit, aber andererseits auch an einem wunderschönen Ort.
Ich spreche hier von drei Menschen, die damals immer noch das Kind in mir erkennen konnten.
Inmitten dieser unsäglichen Akte von Brutalität und Horror, die jemals von der menschlichen Rasse verübt wurden, von Regierung zu Regierung, von Mensch zu Mensch, betrachteten drei Deutsche mich mit Liebe und Mitgefühl.
Agnes Riesch war die Frau eines armen Bauern ohne Bildung. Die Männer ihrer Familie waren an der Ostfront. Sie wurde mein Schutzengel. Eines Tages, als sie auf dem Rückweg von der Bäckerei ihr Fahrrad durch Dachau schob, trat ich vor sie hin und fragte sie, ob sie nicht ein kleines Stück Brot für mich übrig habe. Sie betrachtete mich mit Entsetzen. Ich war ausgehungert, Knochen waren überall an meinem Körper sichtbar. Ich hatte mein eigenes Spiegelbild nicht mehr gesehen, seit ich Ungarn verlasen musste. Ich muss gräulich ausgesehen haben.
Ungläubig fragte sie mich: „Kleiner Junge, warum bist du hier?“
Ich zeigte ihr meine Häftlingsnummer. “Oh nein, du kannst kein politischer Gefangener sein!“ sagte sie.
Dann gab sie mir ein großes Stück Brot, größer als ich es je in einem Konzentrationslager gesehen hatte. Zu dieser zeit gab es eine Lebensmittelrationierung und sie gab mir die Hälfte ihres Brotes, sowie Lebensmittelmarken und Geld, so dass ich selber in der Bäckerei etwas kaufen konnte.
Die Tatsache, dass mir jemand etwas schenkte, war überwältigend für mich, dass mich jemand mit solch traurigen und betroffenen Augen ansah, hat mich im Inneren erschüttert. Es war dieses einfache Wunder, das mich für immer geprägt hat.
Später in Rotschweig bei Dachau, wo ich zur Arbeit an den Karlsfelder Bahnhof geschickt wurde, hat sich ein anderer Deutscher, der Schrankenwärter Martin Fuss, meiner angenommen. Er zeigte mir seine Zuneigung in Form von Leberwurstbroten. Viele Jahre später, als ich ihn 1972 wieder traf, brach er zusammen und begann zu weinen, als er mich sah. Er hatte mich nie vergessen.
Und es gab noch eine weitere Freundliche Bauersfrau, die einen unglaublichen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Vor meiner Begegnung mit dem Hitlerjungen am 27.4.1945, während der „falschen Befreiung“ und dem vorher erwähnten Massaker von Poing, hat diese Frau mich und meine Mitgefangenen in ihr haus aufgenommen. Sie gab uns Milch und Brot. Ich habe ihren Namen 65 Jahre lang nicht gekannt, doch ich denke noch heute jeden tag an sie. Sie setzte mich an ihren Küchentisch – auf einen Stuhl – und gab mir Brot mit Butter und das köstlichste Glas frischer Milch, das ich jemals getrunken habe. Sechs Jahrzehnte habe ich nach ihr gesucht und erst vor wenigen Jahren habe ich erfahren, dass ihr Name Barbara Huber war.
Zurecht stellen viele die Unannehmlichkeiten und das Böse heraus, das hier an diesem Platz geschah, aber ich möchte auch an diese mutigen Akte der Menschlichkeit erinnern.
Agnes Reich brachte mir zunächst heimlich Brot, dann jedoch auch offen, vor den Augen der SS-Wachen. Sie sagten ihr: „Wenn du das weiter machst, kommst du auch hier herein.“ Sie antwortete: „Das ist mir egal!“ Die Wachen haben sie nie angerührt.
Ich kann Ihnen versichern, wenn sie das Herz eines Kindes in ähnlichen ausweglosen Situationen retten, so wie mein Herz in dieser Zeit gerettet wurde, dann retten sie das Leben eines Erwachsenen. Dieser wird für den Rest seines Lebens keine Hassbotschaft, sondern eine Botschaft von Liebe und Zuneigung weitergeben und diese Liebe wird sich verbreiten und viele andere Menschen in den darauffolgenden Jahren erreichen. Dies ist eine Botschaft nicht nur aus der Vergangenheit, sondern eine, an die wir uns noch heute erinnern müssen.
Was ich Ihnen heute anbiete, ist mein wahres Leben – die Geschichte meines Lebens und die Weisheit meines Lebens – wie man Wunden heilt, die unheilbar erscheinen. Der Weg ist kompliziert, schwierig und lang, aber die Absicht ist einfach: Wir müssen erkennen, dass wenn wir jemandem anderen helfen, wir uns auch selbst helfen. Wenn wir jemanden anderen heilen, heilen wir uns selbst. Und besonders wichtig in unserer Zeit: Wir müssen das Mitgefühl in uns lebendig halten, besonders das Mitgefühl für diejenigen, die uns dazu zwingen unsere Komfortzonen zu verlassen, die uns aber auch ermöglichen, unserer besten Zeiten auch immer wieder zu zeigen.
Inmitten all des Hasses und der schieren Brutalität, die ich während meiner Gefangenschaft ertragen musste, gab es ein kleines Licht der Liebe – Agnes reich, Martin Fuss und Barbara Huber haben dafür gesorgt, dass es in meiner Seele niemals erlosch. Und dieses kleine Licht ist heute zu einem strahlenden Lichtschein geworden. So viele heutige Deutsche, Studenten Schüler und Lehrer, Künstler und Politiker – insbesondere Kanzlerin Angela Merkel – haben sich dem Geist der Erinnerung, der Versöhnung und Heilung verpflichtet und wir sind entschlossen, Deutschland zu einer führenden Demokratie zu machen, in der Hass und Rassismus keinen Platz haben, ein Land, das danach trachtet, denen zu helfen, die die Hilfe am dringendsten benötigen.
Ich für meinen Teil möchte, dass die Welt weiß, was sie für mich getan haben. Dieser Teil meiner Geschichte muss immer erzählt werden. Durch die Liebe und die Verpflichtung zur Wahrheit und Hilfe, sind die fehlenden Teile meiner Teile zusammengefügt worden. Ich wurde wieder ganz.
Danke.